Брат/Der Bruder – Eine Filmvorstellung
Брат/Der Bruder – Eine Filmvorstellung
von Emil Herrmann
Brat/Der Bruder von Regisseur Alexei Balabanov ist einer der meistgesehenen Filme Russlands und gehört mittlerweile zum festen Bestandteil des post-sowjetischen Kulturguts. Der Film begleitet Danila (Sergei Bodrov), einen jungen Mann, der gerade aus dem Militärdienst in seine Heimat in der russischen Provinz zurückkehrt und entscheidet nach St. Petersburg zu fahren, um seinen älteren Bruder und angeblich erfolgreichen Geschäftsmann Viktor zu treffen. Dort angekommen wird er mit der harschen Realität organisierter Kriminalität, welche die Straßen St. Petersburg in den Neunzigerjahren regierte, konfrontiert und selbst mit hineingezogen.
Was sich anhört wie der Anfang eines typischen Gangsterfilms, ist tatsächlich viel mehr der Anfang eines tiefgehenden Dramas. Ein Drama über Familie, die raue Lebensrealität vieler Russinnen und Russen in den chaotischen Neunzigerjahren und den Kampf jedes Einzelnen sich in diesen Umständen zurechtzufinden. Brat schafft es wie kein anderer Film diese Themen zu bündeln und in einer authentischen Atmosphäre verschmelzen zu lassen.
Die Neunzigerjahre in Russland – Der Wilde Osten
Die Auflösung der Sowjetunion und der Beginn einer neuen Ära unter dem ersten Präsident der Russischen Föderation Boris Jelzin brachten große Veränderungen und Verwerfungen innerhalb des Landes mit sich. Land und Leute waren mit dem Kapitalismus konfrontiert, der neben vielen neuen spannenden Dingen, wie der Entdeckung des Konsums und der besseren Zugänglichkeit von Kultur aus aller Welt auch viele nicht gekannte Hürden und Probleme für die russische Bevölkerung mit sich brachte. Im Chaos dieser Epoche krallten sich viele Oligarchen und Kriminelle alles, was es aus den sowjetischen Trümmerhaufen zu holen gab. Wo der geschwächte Staat keine Ordnung schaffen und die Sicherheit der Menschen nicht garantieren konnte machte sich die organisierte Kriminalität breit.
In St. Petersburg wuchs die Kriminalität in den Neunzigern, wie auch in vielen anderen russischen Städten rasend schnell an. Die Zahl der Verbrechen ist in der Stadt an der Neva zwischen 1990 und 1999 um das fünffache gestiegen. Wahlen wurden manipuliert, Politiker getötet und Auftragsmorde durchgeführt. Ein großer Teil der städtischen Wirtschaft und Politik war unter der Kontrolle und dem Einfluss der Banden. Diese Ausprägung krimineller Aktivität war typisch für die russischen, mafiaartigen Gangs der 90er-Jahre. Das erste Mittel der Kriminellen war Erpressung. Die oft orientierungslosen, armen jungen Männer bedrohten in klassischer Mafia-Manier Besitzer und Angestellte von Läden und Unternehmen mit Schutzgeldforderungen und verlangten finanzielle oder materielle Dienstleistungen von ihnen. Die Gangs gingen dabei so weit, dass sie ihre Opfer sogar ermordeten um ihre Ziele zu erreichen. Auch miteinander gingen die kriminellen Gruppierungen nicht zimperlich um. Es gab zahlreiche Machtkämpfe zwischen den Banden, bei denen regelmäßig Menschen ums Leben kamen.
Viele Jugendliche der Neunzigerjahre waren mit finanzieller und kultureller Perspektivlosigkeit konfrontiert. Der Zerfall der Sowjetunion führte zum Zusammenbruch der Wirtschaft und auch der sowjetischen Normen. Praktisch über Nacht fielen die ideologischen Stützen der ehemaligen Supermacht in sich zusammen. Orientierung konnte man vom neuen, sehr schwach auftretenden, überforderten Staat nicht erwarten. Für den ums Überleben kämpfenden Teil der Bevölkerung trat an die Stelle der sozialistischen Normen das Streben nach Geld. Vielen Jugendlichen ging es darum so schnell wie möglich aus den ärmlichen Lebensbedingungen zu entkommen. Manche von ihnen scheuten auch den Weg in die Kriminalität nicht. Angestachelt wurden sie dazu noch von den zahlreichen Gangsterfilmen und weiterer Gangster-Popkultur, die zu dieser Zeit produziert wurde.
Weitere Teile der russischen Jugend führte die Orientierungslosigkeit auf andere Pfade. Sie nutzten die neugewonnen Freiheiten der Demokratie und der Öffnung der kulturellen Grenzen und versammelten sich in urbanen Party- und Musikszenen, in denen Techno, Eurodance und Rockmusik gespielt und gehört wurde. Gerade St. Petersburg als westlichste Stadt Russlands, die schon zuvor als Metropole der Untergrundkulturen galt, wurde dadurch noch bunter und vielseitiger.
Die Charaktere des Films und die Facetten des St. Petersburgs der Neunziger
Der Film Brat macht einen Streifzug durch die eben genannten Phänomene und Strömungen der russischen Neunzigerjahre. Die simple Begleitung des Hauptcharakters Danila durch die Wirren St. Petersburgs und den täglichen Überlebenskampf stellt dem Zuschauer immer neue, authentisch dargestellte Aspekte des „wilden“ Russlands der Neunzigerjahre vor.
Während der Zeit in St. Petersburg lernt Danila verschiedene Charaktere kennen, die ihn in unterschiedliche Lebenswelten einführen. Nach seiner Ankunft in der Stadt lernt er den obdachlosen Russlanddeutschen Hoffmann, welchen er „Njemez“ nennt (übersetzt Deutscher) kennen, als er ihn vor dem Überfall eines Gangsters schützt. Daraufhin bietet Hoffmann ihm in verschiedenen Angelegenheiten seine Hilfe an. Später trifft er seinen Bruder Viktor, der nicht auf die Art und Weise erfolgreich ist, wie Danila und seine Mutter es annahmen. Stattdessen arbeitet er als Auftragskiller für den Mafiosi Kruglij. Viktor zieht Danila direkt mit hinein in die Kriminalität, indem er ihn beauftragt einen tschetschenischen Banditen auszuschalten. Durch die Charaktere Viktor und Hoffmann und die mit ihnen zusammenhängenden Handlungen zeigt sich das raue, dunkle und gefährliche Leben Obdachloser und Krimineller in den Neunzigerjahren in St. Petersburg. Eine völlig andere Perspektive liefern zwei weibliche Charaktere, mit denen Danila in Kontakt kommt. Als er durch die Stadt wandert freundet er sich zufällig mit der gleichaltrigen Kat an, die sich über Danilas Musikgeschmack lustig macht, westlichen Eurodance hört und in der Partyszene St. Petersburgs unterwegs ist. Kat nimmt Danila mit auf eine Technoparty, in deren Verlauf er Marihuana raucht und auf Ausländer aus dem westlichen Europa trifft. Des Weiteren lernt Danila nach einer Schießerei die Tramfahrerin Sveta kennen, die mindestens 20 Jahre älter ist als er. Mit ihr beginnt er eine Affäre und beschützt sie vor ihrem gewalttätigen und trinkenden Ehemann. Außerdem besucht er mit Sveta ein Konzert seiner Lieblingsband Nautilus Pompilius. Die Begegnungen mit den beiden weiblichen Charakteren verkörpern und zeigen – abgesehen von der häuslichen Gewalt die Sveta widerfährt – die schöne, hoffnungsvolle und ausgelassene Seite des wilden St. Peterburgs der Neunziger. Zusammengenommen zeichnen die Charaktere um Danila und die Erlebnisse die mit ihnen in Verbindung stehen ein abgerundetes, facetten- und emotionsreiches Bild des urbanen Lebens im Russland der Neunzigerjahre.
Viel mehr als ein typischer Gangster-Film
Der Film verzichtet auf Gewaltverherrlichung und überzogene, unrealistische Charaktere, wie man sie aus gewöhnlichen Gangster- oder Mafiafilmen kennt. Die Tötungen die im Film passieren, werden meist nicht von der Kamera eingefangen oder spektakulär in Szene gesetzt. Danila feiert sich nicht für die von ihm begangenen Morde und profiliert sich nicht als Gangster. Seine gewaltvollen Handlungen werden nicht verherrlicht. Ebenso wenig wird Danila als ein armer, bemitleidenswerter Junge, der notgedrungen in die Kriminalität abstürzt dargestellt. Auch das Gangsterleben wird nicht glorifiziert. Es gibt keine lässigen, coolen Sprüche eines Mafiabosses oder protzige Aufnahmen von Gangstern in Limousinen. Stattdessen wirft der Film einen eher begleitenden, neutralen Blick auf die Geschehnisse und lässt es dem Zuschauer offen, Danila und andere Charaktere zu bewerten. Zusammen mit dem realistisch in Szene gesetzten, dreckigen und verruchten St. Petersburg der Neunziger und dem Soundtrack der Perestroika Rock-Band Nautilus Pompilius (ja, das ist Danilas Lieblingsband) dessen Sänger sogar in einer Szene zu sehen ist, zeigt der Film eine atmosphärische, authentische und dennoch nüchterne Momentaufnahme des urbanen Lebens im Russland der post-sowjetischen Ära in Form eines Gangster/Familiendramas. Dies macht ihn zu einem Klassiker der russischen Films und Must-See für alle Russlandbegeisterten.