Aus Blut entstandene Süßigkeit
Aus Blut entstandene Süßigkeit
27.11.2019, von Sergei Zubeerov
Ein skurriler Schokoriegel
In Russland kaufte meine Mutter mir eine bestimmte Süßigkeit ausnahmsweise gerne, obwohl sie für Zuckerkram schon immer wenig übrig hatte. Rein dem Aussehen nach handelt es sich um einen ganz normalen Schokoriegel, den man aber ausschließlich in Apotheken kaufen könnte. Irgendwie suspekt! Er schmeckte süß und gerade deswegen für ein Kind sehr lecker, aber eigentlich eher nach Karamell als Schokolade und hatte einen leicht ledernen und sogar metallischen Nachgeschmack. Darüber hinaus sollte er noch sehr gesund sein! „Warum ist er so gesund?“, fragte ich meine Mutter. „Darum! Da ist was Gutes drin“, war ihr Antwort. So richtig wusste sie es auch nicht.
Als mir eines Tages jemand in der Schule berichtete, in dem Riegel sei Rinderblut enthalten, war ich baff und hielt es für – wie man es heute sagen würde – Fake News. Warum sollte jemand Blut in einen Schokoriegel tun? Viele Jahre später ergriff mich die Recherchelust. Diese „Süßigkeit“ heißt Hämatogen („гематоген“) und früher, als Hämatogen noch als Nahrungsergänzungsmittel galt, wurde ihm tatsächlich viel Rinderblut beigemischt. Allerdings – zur Enttäuschung der Vampire unter uns – nicht in roher Form.
Der bizarre Name
Das Wort „Hämatogen“ gibt mir immer Anlass unter Freunden mit meinen Altgriechisch-Kenntnissen ein bisschen zu prahlen: Die ganze Wahrheit über den Hämatogen-Riegel erkennt man am Namen. Da findet man zwei altgriechische Wörter: „haima“ (Blut) und „genos“ (kommt vom Verb „gignomai“ und bedeutet: „ich entstehe“). Da hatte ich mein Heureka („Ich hab’s gefunden!“): Hämatogen ist etwas wie: „aus Blut Entstandenes“!
Es kann aber auch anders übersetzt werden: „Blut Schaffendes“. Diese zweite Variante ist passender, weil Hämatogen ursprünglich ein Nahrungsergänzungsmittel zur Vorbeugung von Anämie, oder Blutarmut, war. Das Wort „Anämie“ setzt sich aus der Vorsilbe „a“ (bedeutet: „ohne“) und lustigerweise wiederum aus „haima“ (Blut) zusammen. Hämatogen schafft also Blut für alle, die davon zu wenig haben. Und ja, im Medizinjargon wimmelt es nur so von den Worten mit „haima“: Hämophilie, Hämatom, Hämorrhoiden, you name it…
Dr. Hommels Hämatogen
Vor 120 Jahren schwärmte ein Berner Arzt für ein damals neues Medikament: „Obschon ich eigentlich gegen die Unzahl neuer Präparate bin, hatte ich doch einmal in einem verzweifelten Fall, wo ich kaum noch wusste, was verordnen, Dr. Hommels Hämatogen verschrieben. Der Erfolg war ein überraschend günstiger. Ich schätze das Hämatogen sehr und verordne es bei verschiedenen Magen- und Darmaffektionen, sowie bei allgemeinen Schwächezuständen. Nach meinen Erfahrungen wirkt es bei Frauen und jungen Mädchen besonders gut.“
Dr. Hommel wurde 1851 in deutschem Chemnitz geboren, wanderte aber in die Schweiz aus, wo er 1890 das Geschäft mit Hämatogen in die Wege leitete. Nach dem Patent wird Rinderblut gleich nach dem Schlachten zum gereinigtem Hämoglobin verarbeitet, mit 30% Glyzerin und 10% Kognak versetzt und in braunen Flaschen kühl aufbewahrt. In den 20er Jahren kam Hämatogen in die Sowjetunion. Insbesondere für Kinder, die mangels guter Ernährung an Eisenmangel litten, fing man an, Hämatogen als Schokoriegel zu produzieren.
Hämatogen geht viral
Das russische Hämatogen ging in den letzten Jahren im Internet viral: Es gibt YouTube-Videos, in denen die Amerikaner den Hämatogen-Riegel kosten und ihre Eindrücke schildern. Hämatogen aus Russland kann man sogar bei Amazon und eBay kaufen. Uns es gibt eine Menge Artikel mit den ins Auge stechenden Titeln: „This Russian Candy Bar Contains Actual Cow Blood“ (Dieser russische Schokoriegel enthält echtes Kuhblut), „Bloody Bars“ (Blutige Riegel) und „How Russia Fell In Love With Candy Bars Made of Blood“ (Wie sich Russland in Schokoriegel aus Blut verliebt hat).
Dem Geschmack aus der Kindheit auf der Spur
Ich habe mir einen Hämatogen-Riegel neulich im russischen Supermarkt in Berlin gekauft. Es schmeckt mittlerweile ganz anders: Den charakteristischen metallischen Beigeschmack aus meiner Kindheit fand ich nicht wirklich wieder, obwohl es auf der Verpackung steht, dass Albumin noch im Riegel enthalten ist. Dieses Protein wird aus mehrfach gereinigtem und getrocknetem Rinderblut gewonnen und sollte eigentlich für den „Blut“-Geschmack sorgen. Allerdings schmeckt das Hämatogen von heute so süß, dass dieser letzte Geschmack überdeckt wird.
Die zähe Masse schmeckt sehr nussig – ich konnte nur den mit Pinienkernen erwerben – und beinhaltet neben Albumin Kondensmilch, Zucker, und Stärkesirup, was zu Folge hatte, dass ich den kleinen Riegel nur mit einer vollen Kanne Tee im Laufe des Tages aufessen konnte. Das heutige Hämatogen ist eher eine Süßigkeit für Nostalgiker und hat wenig mit der Idee jenes Nahrungsergänzungsmittels aus dem 19. Jahrhundert zu tun. Eigentlich würde ich gerne noch das „echte“ Hämatogen aus meiner Kindheit finden.