Über Glaube und Kirche, Dostojewski und Nietzsche – im Gespräch mit der Philosophin und Philologin Dr. Ekaterina Poljakova
Über Glaube und Kirche, Dostojewski und Nietzsche – im Gespräch mit der Philosophin und Philologin Dr. Ekaterina Poljakova
Am 18. September 2019 diskutierten Dr. Ekaterina Poljakova und der Jesuitenpater Pater Dr. Hermann Breulmann im Rahmen des 3. Guardini Salons „Die Vermessung der Macht“ über das Poem vom „Großinquisitor“ aus dem Roman Die Brüder Karamasow von Fjodor Dostojewski. Nach dieser Veranstaltung stellte Kulturportal Russland Ekaterina Poljakova noch einige Fragen.
Das Interview führte Sergei Zubeerov
Wie es am Abend in der Guardini-Galerie der Eindruck war, haben Sie die Rolle des Verteidigers der Orthodoxie übernommen. Obwohl Sie selbst zum Katholizismus übergetreten sind (ich hoffe, ich verstehe diesen Punkt richtig). Wenn ja, könnten Sie uns dann sagen, wie Ihr spiritueller Weg von der Orthodoxie zum Katholizismus verlief? Mit anderen Worten, wie hat sich Ihre Einstellung zur Religion in Russland entwickelt und wie hat sie sich später und jetzt in Deutschland oder im Westen entwickelt?
Sie haben es ein wenig missverstanden. Ich bin nie von der orthodoxen zur katholischen Kirche übergetreten. Wie viele Kinder in der Sowjetzeit wurde ich überhaupt nicht getauft. Tatsächlich ist meine Geschichte ziemlich typisch. Es ist bekannt, dass es nach jahrzehntelanger antireligiöser Propaganda und Verfolgung der Kirche in der Sowjetunion in den 70er Jahren zu einer religiösen Renaissance kam, die sich während der „Perestroika“ und dann in den 90er Jahren rasch entwickelte. Vor allem in intellektuellen Kreisen und unter jungen Menschen war das Interesse an der Kirche im Allgemeinen und an der russischen religiös-philosophischen Tradition im Besonderen sehr groß. Dies ist zum Beispiel die Zeit der Predigten von Alexander Men [russisch-orthodoxer Priester und Theologe, Anm. der Redaktion], der viele gebildete Menschen in die Kirche brachte. Aber es ist kein Geheimnis, dass die russisch-orthodoxe Kirche insgesamt nicht bereit war, alle diese Menschen angemessen zu empfangen, d.h. nicht zu enttäuschen und nicht wegzustoßen. Ich will es niemandem vorwerfen, es ist eine tragische Geschichte, die Kirche wurde zerschlagen, von innen vergiftet. Eigentlich ist es erstaunlich, dass dort überhaupt noch etwas Lebendiges geblieben ist. Aber das erklärt, warum viele Menschen schließlich in der katholischen Kirche Zuflucht nahmen.
Russische Katholiken sind vor allem ein intellektuelles Phänomen. So wurde ich als Erwachsene, als Studentin, katholisch getauft. Zu konvertieren halte ich für etwas nicht ganz Richtiges. Das Letzte, was ein Christ meiner Meinung nach tun sollte, ist, sich auf die Suche nach einer „geeigneten“ Kirche zu machen. Natürlich gibt es Gemeinden auf der Welt, die man schnellstmöglich verlassen sollte. Aber das betrifft weder Orthodoxie noch Katholizismus. Der Sinn meiner, wie Sie meinen, „Verteidigung“ der Orthodoxie war nicht zu sagen, wie schön sie ist oder dass sie besser oder schlechter als der Katholizismus ist – das ist nicht der Punkt. Es ist nur so, dass dem Katholizismus gerade das fehlt, was die Orthodoxie hat, und der Orthodoxie fehlt das, was der Katholizismus hat. Darin besteht die Tragödie des großen Schismas von 1054. Vielleicht gilt das Gleiche bis zu einem gewissen Grad auch für die Reformation. Deshalb ist die Spaltung der Christen so fürchterlich: Wir alle haben etwas Wertvolles verloren und können es nicht durch Konversionen wiederfinden. Diese verschlimmern nur die Spaltung. Einen solchen Moment der Versuchung hatte ich auch einmal: Ein paar Jahre nach der Taufe habe ich mir überlegt, zur Orthodoxie zu wechseln. Aber ich verstand dann, dass es viel richtiger ist, in der Tradition zu bleiben, zu der man gehört, und sich darum zu bemühen, sie mit der lebendigen Erfahrung einer anderen Tradition so weit wie möglich zu ergänzen. Ich bin hier in einer guten Position. Obwohl ich schon immer zur katholischen Tradition gehörte, habe ich auch eine Vorstellung von der russisch-orthodoxen Religiosität, zumindest als russische Philologin, was meinen ersten Studienabschluss und meine Doktorarbeit angeht.
Was Deutschland betrifft, so gibt es hier eine eigene religiöse Tradition und eigene Probleme. Der Katholizismus sieht hier ganz anders aus als in Russland oder, sagen wir, in Polen oder in Italien. Nationale Besonderheiten spielen überhaupt eine sehr wichtige Rolle. Im Katholizismus scheint mir die Fähigkeit am wertvollsten, all diese nationalen Eigenarten aufzunehmen ohne sie auszugleichen, aber auch ohne die Einheit zu verlieren – das berühmte Prinzip der Einheit in Vielfalt. Aber auch das ist kein Geheimnis, dass die katholische Kirche in Deutschland sehr protestantisch aussieht – zum Beispiel was die Ästhetik der Liturgie angeht, die zum größten Teil sehr bescheiden ist, oder das Verhalten der Gemeindemitglieder während der Gottesdienste (manchmal sieht es so aus, als ob sie nur damit beschäftigt wären, das Liederbuch rechtzeitig auf der richtigen Seite aufzuschlagen), oder was die allgemeine Haltung der Katholiken zu ihrer Kirche anbelangt, das kritisch-fordernde, ständige Verlagen nach irgendwelchen Reformen, Diskussionen usw. Zuerst war ich davon besonders schockiert. Ich habe immer gedacht, dass die Kirche kein richtiger Ort dafür ist. Aber allmählich sah ich ein, dass das nicht immer schlecht ist, wenn man damit nicht übertreibt natürlich. Ich denke, meine Einstellung zur Kirche wurde allmählich „deutscher“, obwohl eine gewisse Distanz blieb.
Was erklärt Ihrer Meinung nach die Popularität von Dostojewski in Europa? Kann dies als Versuch der Europäer interpretiert werden, die „geheimnisvolle russische Seele“ zu verstehen, oder gibt es dafür eine andere Erklärung?
Es gibt viele Autoren, die nicht weniger, vielleicht sogar mehr gefallen, zum Beispiel Nikolai Gogol oder Mikhail Bulgakov. Aber sie sind weniger bekannt, von ihnen redet man kaum, hält keine Vorträge usw. Aber natürlich liegt es auch an Dostojewski selbst, an den ewigen oder „verfluchten“ Fragen, wie er sie nannte. Sie sind nicht russisch, sondern allgemeinmenschlich. Bei ihm sind sie bloß mit unglaublicher, tatsächlich sehr russischer Offenheit ausgedrückt. Vielleicht schämen sich westliche Autoren für solche offensichtlichen Manifestationen metaphysischer Gefühle. Dostojewski dagegen nennt die Dinge bei ihrem Namen, scheut sich nicht, sich mit solchen Formulierungen zu kompromittieren, wie zum Beispiel „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt“. Und was die russische Seele betrifft… Der russische Philosoph Valery Sawtschuk machte einmal während einer Konferenz in Greifswald auf eine Frage nach der russischen Seele einen wunderbaren Witz: Die russische Seele ist nicht weniger rätselhaft als die deutsche Vernunft. Eine schöne Formulierung, besser kann man es nicht ausdrücken. Es geht nicht etwa um das Gegenteil vom Rationalen und Irrationalen, wie man oft denkt – beide sind mysteriös. Deshalb findet man Dostojewskis spirituelle Suche in Deutschland so spannend, nicht weniger als in Russland.
Warum glauben Sie ist insbesondere das Poem „Der Großinquisitor“ in einer separaten Ausgabe, getrennt von den „Brüder Karamasov“, in fast allen deutschen Buchhandlungen erhältlich? Haben die Deutschen eine besondere Sehnsucht nach östlicher Spiritualität?
Ich glaube schon. Obwohl, ich wiederhole, Dostojewskis Werk, auch dieses „Poem“, scheint mir weder besonders östlich noch russisch zu sein. Es stimmt aber, dass darin manche im Westen allgemein akzeptierte Dinge, die eigentlich nicht so selbstverständlich sind, in Zweifel gezogen werden. Zum Beispiel, dass das Streben nach Gemeinwohl mit der persönlichen Freiheit vereinbar ist, dass dieses Wohl das wichtigste Ziel der Menschheit ist, etc. Mir scheint, dass es in Deutschland trotz des sprichwörtlichen deutschen Verlangens nach Ruhe und öffentlicher Ordnung auch die Sehnsucht nach allem Komplexen und Ungeordneten gibt, nach dem Dionysischen, wie Nietzsche es verstand, nach den Abgründen der Existenz. In der Kombination von innerer Abgründlichkeit und rein deutscher Besonnenheit, liegt für mich gerade die geistige Anziehungskraft Deutschlands. Obwohl diese Mischung in gewisser Kombination eine ernsthafte Gefahr darstellt und mit schrecklichen Exzessen und Katastrophen behaftet ist, an die es überflüssig ist zu erinnern.
Frage an Sie als Expertin für Dostojewski und Nietzsche: Wie erklären Sie diese Worte Nietzsches über Dostojewski: „dieser tiefe Mensch, der zehn Mal Recht hatte, die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen“? Handelt es sich um eine archetypische Einstellung deutscher Intellektueller zu sich selbst und den Russen oder findet hier die rein persönliche Sichtweise Nietzsches ihren Ausdruck?
Nietzsche hat sich nicht nur über Dostojewski so geäußert, sondern ähnlich zum Beispiel über Stendal. Von den Deutschen sprach er dagegen selten gut, bis auf wenige Ausnahmen, und das ist tatsächlich typisch. Eine angespannt-kritische Haltung gegenüber sich selbst samt der Sehnsucht nach dem Fremden ist meiner Meinung nach eine der wertvollsten deutschen Eigenschaften. Nietzsche war darin ein echter Deutscher, der nach Italien strebte, sich nach dem Orient sehnte und Russland bewunderte, obwohl er es doch sehr wenig kannte. Aber, ich denke, das, was Nietzsche bei Dostojewski las, zum Beispiel sein Roman Die Dämonen (russisch Бесы Bessy), hat ihn wirklich beeindruckt. Und dieser Roman kann nicht anders als zutiefst zu beeindrucken, so tiefgreifend ist er psychologisch, so scharfsinnig ist der Blick des Künstlers zum Beispiel auf das Problem des Sozialismus. Dieser Roman könnte auch heute für die Deutschen von Nutzen sein. Heute wird hier leider viel zu wenig über die Gefahren des Sozialismus nachgedacht. Es ist erstaunlich, dass die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts irgendwie vergessen wurde. Menschen wollen nicht aus den Fehlern anderer lernen. Sie sind wieder bereit, den Sozialismus mit einem „menschlichen Gesicht“ aufzubauen. Die sozialistische Idee hat Deutschland bereits viel Schaden zugefügt. Es genügt, einen Blick auf den aktuellen Zustand der Stadt Berlin zu werfen. Aber das nur nebenbei, zurück zu Nietzsche. Man kann sagen, dass dieser Autor, genau wie Dostojewski, keine Angst hatte, sich mit direkten Aussagen zu kompromittieren. Er scheute sich nicht vor konsequenter Hinterfragung der verlockenden Ideale, und selbst nicht davor, die eigentlichen Grundlagen des menschlichen Lebens in Frage zu stellen. Nietzsche war übrigens in Russland immer sehr beliebt, nicht weniger als Dostojewski in Deutschland und viel mehr als er selbst in seiner Heimat. In Deutschland wurde Nietzsche lange Zeit ideologisch behandelt, was er sicherlich nicht verdient. In Russland dagegen schätzte man seine intellektuelle Rücksichtslosigkeit und extreme Entschlossenheit in religiösen Fragen. Dabei ähnelt er Dostojewski, obwohl ihre Entscheidungen grundsätzlich verschieden sind – Dostojewski entscheidet sich für Christus, Nietzsche gegen ihn. Aber beide sagen: Das ist meine Entscheidung in einer Situation der existenziellen Ungewissheit, eine Entscheidung, für die ich bereit bin Verantwortung auf eigenes Risiko zu tragen. Nietzsche betont es im Antichrist, ohne Dostojewski zu erwähnen, aber zitiert faktisch sein Glaubenssymbol: Hätte mir jemand bewiesen, dass Christus außerhalb der Wahrheit ist, wäre ich bei Christus geblieben. Nietzsche sagt das Gegenteil: Wenn jemand bewiesen hätte, dass der Gott der Christen wahr ist, hätte ich auch dann zu ihm Nein gesagt. Es geht nicht um Beweise, es geht um die persönliche Entscheidung von jedem von uns, um die letzte Freiheit, von der im Großinquisitor die Rede ist. Wenn es nicht möglich wäre, Christus ein bedingungsloses „Ja“ zu sagen, wäre auch ein bedingungsloses „Nein“ unmöglich und umgekehrt. Darum war Dostojewski für Nietzsche so wichtig. Übrigens bewunderte er ihn nicht nur, wie an der Stelle, die Sie zitiert haben. Einmal schrieb er: Dostojewski ging „immer meinen untersten Instinkten zuwider“, als „der einzige logische Christ“.
Um auf die Unterschiede zwischen westlichen und östlichen Kirchen zurückzukommen, würde mich Ihre Meinung zur Metapher der praktischen Martha und der kontemplativen Maria interessieren. Inwieweit spiegelt diese Metapher die Realität wider?
Eigentlich gefällt mir dieser Vergleich nicht. Er geht zurück auf Gogol, aber seither wurde er von russischen Intellektuellen vielerlei wiederholt. In ihrem Mund scheint er mir sehr anmaßend zu sein, obwohl er vielleicht tatsächlich etwas in der Beziehung zwischen den beiden Kirchen erklären kann. Martha (die Kirche des Westens) macht sich Sorgen, denkt dabei nur an das Irdische, an die materielle Nahrung. Maria (die Kirche des Ostens) hört auf das Wort des Erlösers und denkt ausschließlich an das Geistige. Übrigens hat Gogol mit diesem Vergleich zeigen wollen, wie falsch und schädlich die Trennung der Kirchen ist, aber natürlich waren für ihn alle Vorteile auf der Seite der orthodoxen Kirche, die als Vorbild für die katholische Kirche dienen sollte (bei solchen Überlegungen denkt man in Russland selten an die Protestanten).
Das Problem von Martha, wie sie im Lukasevangelium dargestellt wird, besteht aus meiner Sicht darin, dass sie nicht einfach dienen kann. Sie würde mit Maria ungern die Plätze tauschen, sie will nicht wie Maria sein, sondern sie will, dass Maria wird wie sie. Ich erinnere mich an eine absurde Aussage der deutschen katholischen Feministinnen, die eine Erhöhung der Rolle der Frauen in der Kirche forderten: „Wir wollen nicht dienen, wir wollen etwas bestimmen“. Es spielt keine Rolle, ob die konkrete Forderung berechtigt ist. Im Falle von Martha war sie zumindest verständlich. Aber wer diesen Weg eingeschlagen hat, versteht nicht den Sinn des Christentums. Er liegt im Dienen, nicht in der Forderung, dass deine Rechte beachtet werden, auch wenn diese berechtigt ist. In dieser Hinsicht ist Martha in der Tat eine Metapher für das westliche Christentum. Aber nicht weniger für das östliche. Die Ansprüche sind hier sehr hoch und leider auch die Selbsteinschätzung. Das westliche Christentum mag es verdient haben, mit Marthas Sorgen und Klagerei über die Ungerechtigkeit verglichen zu werden, aber das östliche hat nicht immer gute Gründe sich mit Maria zu identifizieren, die zu Christi Füßen sitzt und seinem Wort zuhört.
Sie sagten, dass Sie die orthodoxe Kirche nicht loben wollen, sie habe keinen Grund, sich über die westlichen Kirchen zu stellen. Aber gleichzeitig haben Sie sehr deutlich gemacht, dass die orthodoxe Kirche ein grundlegend anderes Glaubensverständnis hat als z.B. Protestanten, und auch ein Verständnis davon, wie ein Gläubiger sein sollte und was seine Pflichten sind. Könnten Sie diesen Unterschied der Spiritualität und der Möglichkeiten der Glaubensausübung noch einmal erklären?
Es ist nicht einfach, dies kurz zu machen, aber ich werde es versuchen. Es scheint mir, dass die Erfahrung des geistigen Kampfes auf dem Weg der Selbstvervollkommnung, die Erfahrung der östlichen Asketen und Mystiker, im Westen in Vergessenheit geraten ist. Dieser geistige Kampf wurde Schritt für Schritt selbst in Klöstern durch etwas Äußeres ersetzt, durch die Sorge um Institutionen, Gerechtigkeit, soziale Entwicklung, wissenschaftliche Erkenntnisse. Das alles sind sehr nützliche und wichtige Dinge. Schlecht werden sie, wenn sie sich auf Kosten der inneren Welt entwickeln, die geistige Entwicklung ersetzen und schließlich zur Leugnung der geistigen Erfahrung werden. Ich denke, dass diese Prozesse im Westen bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgt werden können – obwohl ich das nicht behaupten kann, es ist eine Frage für Historiker. Wichtig ist, dass wir heute ein sehr seltsames Ergebnis haben. Heute kann ein westlicher Christ ein sehr gebildeter und intelligenter Mensch sein, mit seinen eigenen Ansichten und selbstständigen Urteilen über alles in der Welt, aber eines bleibt ihm völlig fremd und das ist er selbst. Sich selbst kennt er nicht, weder seine innere Welt, noch die geistigen Gefahren, noch die Mittel, sie zu vermeiden. Er lebt auf einer Oberfläche, die sich früher oder später als dünne Eiskruste entpuppt. Wenn er unvorbereitet und von seiner eigenen inneren Welt nichts wissend, mit einer ernsthaften Lebenssituation konfrontiert wird, erweist sich sein Glaube als nutzlos, abstrakt, irrelevant für das Leben. Die Kirche des Westens, sowohl die katholische als auch die evangelische, predigt das Vertrauen in Gott und die Liebe zum Nächsten, sagt aber so gut wie gar nichts darüber, wie man alle diese schöne Dinge erwerben kann, noch über die Prüfungen, die uns auf diesem Weg erwarten. Darum wird ihr Mitglied früher oder später sehr enttäuscht sein von ihr und von sich selbst. Die Ostkirche hingegen predigt nicht nur den Glauben als den Weg der Selbsterkenntnis, sondern stellt auch die Gotteserkenntnis in direkte Abhängigkeit davon. Orthodoxe Priester sprechen unermüdlich von der Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber, von der ständigen, mühsamen Arbeit an der eigenen Seele. Im christlichen Leben geht es nicht darum, von Zeit zu Zeit gewissen Werten seine Treue zu bestätigen, sondern vielmehr darum, gegen Versuchungen anzukämpfen, nach dem Willen Gottes zu suchen, einfach nach Gott zu suchen, und nicht zu denken, dass man ihn in der Tasche hat. Der Glaube ist kein schöner Zustand des Vertrauens (welches weiß Gott woher kommen soll), keine gute Laune und schon gar nicht die Selbstzufriedenheit, sondern tägliche harte Arbeit, deren Werkzeuge Askese, Reue und ständiges Gebet sind. Diese drei Elemente des christlichen Lebens spielen im westlichen Christentum eine immer geringere Rolle.
Dennoch scheint es mir, dass die Orthodoxie hier etwas übertreibt. Schließlich ist die Idee des Glaubens als harte Arbeit und des Lebens als ständige Kraftprobe nicht ganz christlich. Hier ist der Einfluss der östlichen Religionen mit ihrer Vorstellung von der Welt als Täuschung und ihrer asketischen Negierung aller körperlichen Freuden sehr stark. Die christliche Vorstellung, dass Gott die Welt aus Liebe erschaffen und sich für ihre Erlösung geopfert hat, tritt dagegen in den Hintergrund. Während Gott im Westen ein abstraktes Prinzip und eine Art Versicherung ist, die das geistige Gleichgewicht gewährleisten soll, ist er im Osten ein strenger Prüfer, vor dem nur wenige Menschen bestehen können. Westliche Güte entpuppt sich so als oberflächlich, östliche Kontemplation führt entweder zu geistigem Egoismus oder zur Niedergeschlagenheit. Dadurch wird die Fürsorge für den Nächsten grundlos, der Weg der Selbsterkenntnis ziellos. Ihre Trennung erschwert das christliche Leben gewaltig. Ähnlich wie die alte Diskussion zwischen den Protestanten und Katholiken bzw. Luthers Frage: Was ist wichtiger, Glaube oder Werke? Eine falsche Alternative. Eins macht ohne das andere keinen Sinn.
Meine letzte Frage betrifft die Metapher von Papst Johannes Paul II., dass Europa „mit beiden Lungen atmen“ soll. Was halten Sie von dieser Metapher? In Bezug auf Ihre persönliche Geschichte, denken Sie, dass Sie mit „beiden Lungen“ atmen?
Diese Metapher stammt nicht von Papst Johannes Paul II., obwohl sie im Westen tatsächlich durch ihn bekannt wurde. In Wirklichkeit zitierte er den russischen Philosophen Wjatscheslaw Iwanow, zuerst in seiner Begrüßungsrede an die Teilnehmer eines Symposiums, das diesem russischen Philosophen gewidmet war, und dann in seiner Enzyklika Ut unum sint. Johannes Paul II. zeigte in dieser Hinsicht eine unglaubliche Tiefe. Sein apostolisches Schreiben Orientale lumen ist eine echte Hymne an die Orthodoxie, wobei direkt und sehr konkret gesagt wird, wie viel durch die Spaltung verloren gegangen ist, wie sehr dem Westen die unschätzbare Erfahrung der östlichen Christen fehlt. Der Papst war sich dessen sehr bewusst, er wusste, wovon er sprach, und hatte keine Angst, darüber zu sprechen. Tatsächlich spricht die Metapher von zwei Lungen für sich. Man kann nur mit einem atmen, aber es ist schwer, sehr schwer. Ich mag diese Metapher sehr. Und natürlich möchte ich sehr gerne mit beiden Lungen atmen, d.h. das Beste aus dem westlichen und östlichen Christentum auf meinem Lebensweg verwirklichen. Eine andere Frage ist, inwieweit dies gelingen kann, denn es handelt sich um nichts Geringeres als um die Frage, ob ein vollkommenes christliches Leben auch heute noch möglich ist. Wer wäre so anmaßend zu sagen: „Ich kann es, ich werde es schaffen“? Das wäre das westliche Extrem – die Arroganz der Selbstzufriedenheit. Dennoch ein Satz wie „Natürlich bin ich dazu nicht in der Lage“ wäre ein Ausdruck der östlichen Mutlosigkeit. Wir sollen es versuchen und nicht vergessen, dass das Unterfangen der spirituellen Synthese von West und Ost nicht nur die Fähigkeit eines einzelnen Menschen, sondern auch die menschlichen Fähigkeiten überhaupt weit übersteigt. Aber nur diejenigen, die sich Mühe geben, dürfen auf Hilfe hoffen, so scheint es mir.
Die russische Version können Sie hier lesen.