Multiplikatorenseminar „Leningrader Deutsche und die Blockade“
Multiplikatorenseminar „Leningrader Deutsche und die Blockade“
von Alexandra Majorov
Mitte November 2019 lud das Deutsch-Russische Begegnungszentrum (drb) in Sankt Petersburg Pädagog/innen, Leiter/innen von Jugendverbänden sowie Studierende zum internationalen Multiplikatorenseminar «Leningrader Deutsche und die Blockade» ein.
Das Programm fand im Rahmen der „Humanitären Geste“ des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland statt. In einer gemeinsamen Erklärung am 27. Januar 2019 gedachten der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland Heiko Maas und der Außenminister der Russischen Föderation Sergej Lawrow der Opfer der Leningrad-Blockade. „Heute vor 75 Jahren […] endete eine 872 Tage dauernde Zeit des Sterbens, des Hungerns und Leidens, während der mehr als eine Million Menschen den Tod fanden,“ so die beiden Außenminister. Damit wurde auch der Grundstein für die deutsche humanitäre Geste gesetzt: Die deutsche Bundesregierung tätigte eine Spende gegenüber den noch lebenden Blockadeopfern in Höhe von 12 Mio. Euro. Mit dem Geld sollte die Modernisierung des Krankenhauses für Kriegsveteranen und die Einrichtung eines deutsch-russischen Begegnungszentrums für die russische und deutsche Öffentlichkeit sowie für die Blockadeopfer in St. Petersburg finanziert werden.
Vom 15. – 20. November sah das Programm des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema der Leningrader Blockade vor: Neben einer themenbezogenen Stadtrallye und dem Besuch des Staatlichen Gedenkmuseums der Verteidigung und Blockade Leningrads kam es auch zu einem Treffen mit Zeitzeugen und “Kindern” der Blockade aus russlanddeutschen Familien.
Am ersten Tag wurde die Besuchergruppe durch die Petrikirche am Newskij Prospekt geführt. Dass dieser sakrale Bau zu Zeiten der Sowjetunion ein Schwimmbad gewesen ist, konnten die Teilnehmenden im Untergeschoss des Gebäudes sehen: Das vier Meter tiefe Becken ist noch vorhanden. Heute finden wieder Gottesdienste statt, aber auch das Büro des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums befindet sich im Obergeschoss der Kirche.
Sophie Tempelhagen, Mitarbeiterin des Begegnungszentrums, erklärt die Ziele der Organisation: „Das drb ist sowohl eine Sprachschule als auch ein Kultur- und Bildungszentrum im Herzen des Deutschen Viertels von Sankt Petersburg.“ Neben Deutschkursen für alle Altersgruppen organisiert das drb alljährlich zahlreiche Veranstaltungen, wie Exkursionen, Vorträge und Konzerte. „Wir nehmen auch an städtischen Kulturevents, zum Beispiel an der Deutschen Woche in Sankt Petersburg und der Langen Nacht der Museen teil“, so Tempelhagen weiter. Insgesamt um die 700 Veranstaltungen jährlich und das bereits seit 25 Jahren. Neben der Aufklärung über die Blockade sollte das Projekt einem weiteren Zweck dienen: „Auch ist es ein Ziel des Multiplikatorenseminars mehr Menschen zu ermöglichen, sich ein Bild von unserer Arbeit zu machen. Darüber hinaus wollten wir neue Partner für unsere zukünftigen Programme finden.“, fügt die Kollegin Ekaterina Judina hinzu. Momentan spricht die Statistik auf der Homepage des drb von 76 Partnerorganisationen in der ganzen Welt. Die Mitarbeiterinnen wissen, wie wichtig es ist, die Organisatoren vor Ort kennenzulernen: „Insbesondere wenn es um Lehrer geht, die später mit einer Schülergruppe an unseren Programmen teilnehmen werden.“
Aber auch Einzelpersonen, die sich mit dem Thema Erinnerungsarbeit beschäftigen, nahmen am Seminar teil. Pascal Dewes gehörte zu diesen interessierten Angereisten. Er studiert Philosophie und Slavistik an der Universität Trier und war nicht das erste Mal in dem sogenannten Venedig des Nordens: „Auch wenn ich schon einige Zeit in der Stadt verbracht habe, so war jeder einzelne Punkt des drb- Programms für mich gänzlich neu. Sogar bei der Stadtrallye konnte ich viel Neues erfahren. Zum Beispiel wo sich versteckte kleine Denkmäler befinden.“
Der erste Seminartag wurde von der Historikerin Dr. phil. Irina Tscherkasjanowa beendet. Sie hielt eine Vorlesung auf Russisch zum Thema „Leningrader Deutsche. Schicksale der Kriegsgenerationen“. Doch dank täglicher Begleitung in Person von Übersetzerinnen konnten auch nicht Russisch sprechende Teilnehmende problemlos folgen. In den weiteren Tagen wurde das neu eröffnete Staatliche Gedenkmuseum besucht. Aber auch Blockadeüberlebende, sogenannte „Blockadniki“ wurden in das Begegnungszentrum eingeladen, damit die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer direkt mit den Zeuginnen des Geschehens sprechen konnten. Diese Gespräche stellten das Highlight für den 25-jährigen Philosophiestudenten Pascal dar: Das Unfassbare aus erster Hand zu hören und nicht nur darüber in Büchern zu lesen habe ihn nachhaltig beeindruckt. Er kehre mit neuen Impressionen nach Deutschland zurück: „Ich konnte sowohl für den Themenkomplex der Blockade, als auch für die Diskussion um das Zusammenspiel von Staatsangehörigkeit und Identität viele neue Eindrücke und Perspektiven einfangen. Daraus folgt in erster Linie eine höhere Sensibilität in beiden Themen.“
Für alle steht fest: Das Erinnern an das Grauen des Zweiten Weltkrieges darf nicht vergessen werden. Heute soll das Wissen darum helfen, wie die Menschen handeln können, um solch ein Leid ein weiteres Mal zu verhindern.
„Ich arbeite in Deutschland in einem Projekt zur Demokratieförderung und Extremismus Prävention. Dabei beschäftigen wir uns unter anderem mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus und der Frage, wie wir darauf reagieren können und welche Möglichkeiten es gibt, demokratiefeindlichen und menschenverachtenden Phänomenen entgegen zu treten“, erklärt Susanne Kolb, Referentin für politische Bildung der Akademie für politische und soziale Bildung der katholischen Kirche im Bistum Mainz. Im Seminar besuchte die 45-Jährige ein Programm zur Aussöhnung zwischen Deutschland und Russland mit dem Schwerpunkt auf den Verbrechen der Wehrmacht an der Leningrader Bevölkerung: „Das Thema des Seminars erschien mir als eine gute Möglichkeit, um über Fragen von Gedenk- und Erinnerungskultur ins Gespräch zu kommen. Insbesondere auch über die Frage danach, wie und von wem Erinnerungen weiter gegeben werden. Und wie wir damit umgehen, dass es schon heute kaum noch Überlebende dieser tragischen Zeit gibt und wer in Zukunft Geschichte schreiben wird.“ Dass die Auseinandersetzung mit der Leningrader Blockade wichtig und doch kaum Bestandteil im Geschichtsunterricht an deutschen Schulen sei, gibt der Referentin zu denken. „Im privaten und beruflichen Umfeld werde ich sicher darüber berichten und so versuchen Anstöße zu geben, sich mit dem Thema weiter zu beschäftigen. Gerne möchte ich andere Menschen dazu anregen, bei einem Besuch dieser großartigen Stadt auch deren dunkle geschichtliche Seiten zu betrachten und auch die deutschen Anteile daran zu sehen“, sagt sie.
Am letzten Tag des Seminars fand eine Stadtrallye durch die nördliche Metropole statt. Sie führte die Teilnehmenden an die vielen Blockadeorte des ehemaligen Leningrads. Dabei wurden Schäden aus dem Zweiten Weltkrieg an der Isaakskathedrale entdeckt. Die leicht übersehbare Aufschrift am Newskij Prospekt, die die Leningraderinnen und Leningrader in der Blockadezeit warnte, auf der sicheren Seite der Straße zu gehen – die deutsche Artillerie schoss südlich von Leningrad, sodass die Nordseite einer Straße zumeist gefährlicher war – wurde fotografiert. Die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer lernten schnell: Sie müssen den Kopf heben, um alles zu sehen zu können. Der Blockadelautsprecher zwischen dem Prospekt des 25. Oktober und der Uliza Proletkulta wäre andernfalls übersehen worden. Auch den Kater Jelissej und die Katze Wassilissa auf der Malaja Sadowaja Uliza an Haus Nr. 3 und Nr. 8 kennen wahrscheinlich die wenigsten Touristinnen und Touristen. Diese kleinen Denkmäler wurden zu Ehren der Katzen aufgestellt, da sie einen großen Teil zur Rettung der Blockadestadt ausmachten. In der Hungerzeit wurde das Leid so groß, dass auch Haustiere gegessen wurden. Das Fehlen der Katzen machte es den Ratten jedoch leicht, sich ungestört auszubreiten. Um eine Epidemie zu vermeiden, wurden im Januar 1943 vier Waggons mit Katzen aus Jaroslawl gebracht. Nach Ende des Krieges folgten sogar weitere 5000 Tiere aus Sibirien, um die Rattenplage komplett zu besiegen.
Der Abend vor dem Abflug wurde mit einem Abendessen samt Übergabe der Zertifikate in einem Restaurant abseits der touristischen Ecken verbracht. Die Angereisten konnten Eindrücke und Erfahrungen sammeln. Sie flogen nachdenklich und auch zufrieden, neues Wissen gesammelt zu haben, nach Hause. Susanne Kolb fasste den Grundgedanken der Teilnehmenden zum Ende noch einmal zusammen: „Helfen wir mit, die deutsch-russischen Beziehungen – und die menschlichen Beziehungen darüber hinaus – auf Augenhöhe zu gestalten.“