Eine Buchrezension zu Michail Schischkins «Die Eroberung von Ismail»
Michail Schischkin «Die Eroberung von Ismail»
Eine Buchrezension von Viktoria Gonschorek
Vom 2. August 2017
Auf die Frage, worum es in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Roman «Die Eroberung von Ismail» geht, antwortet der Autor Michail Schischkin: «Der Roman beginnt in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts und endet mit der Geburt meines Sohnes im Kantonsspital in Winterthur. Es geht um den Kampf zwischen dem Erfundenem und Nicht-Erfundenem, es ist meine Kampfansage an die Literatur, an das, was erfunden wird. Der Autor versucht, einen Roman zu schreiben; über einen Anwalt, über irgendwelche Kriminalfälle, aber etwas stört ihn. Bis er versteht, was stört – sein eigenes Leben. Die Realität des Autors, sein eigenes Leben zerreißt das Erfundene. Und das Nicht-Erfundene kommt ins Buch.»
Man muss Schischkin dankbar dafür sein, dass er selbst eine Inhaltszusammenfassung für seinen Roman liefert, schließlich muss er es am besten wissen. Als Leser fällt es nämlich schwer, in dem 500 Seiten starken Werk eine konkrete Handlung auszumachen. «Die Eroberung von Ismail» ist auf Russisch bereits 1999 erschienen und wurde erst diesen Sommer ins Deutsche übersetzt. Es ist das dritte in Deutschland erschienene Buch von Michail Schischkin. Vorher wurden bereits «Venushaar» und «Der Briefsteller» veröffentlicht. Obwohl Schischkin bekannter Putin-Kritiker ist, haben seine Bücher vielfache Auszeichnungen erhalten und er ist der einzige Autor Russlands, der mit allen drei großen russischen Literaturpreisen geehrt wurde. Seit über 20 Jahren lebt der 1961 in Moskau geborene Michail Schischkin in der Schweiz. Dort arbeitete er zunächst als Russischlehrer und Dolmetscher für das Migrationsamt, bevor er nun seit einigen Jahren ausschließlich vom Schreiben lebt.
Schischkin sagt, er sei es schon müde zu hören, dass sein Buch so kompliziert aufgebaut sei. Seiner Meinung nach ist es sehr einfach: «Das ist das Jüngste Gericht». Tatsächlich macht es Schischkin seinen Lesern aber nicht leicht. Oft weiß man nicht einmal, wer der Erzähler ist, die Grenzen zwischen den zwei Ich-Erzählern verschwimmen, wo und in welcher Zeit man sich befindet, kann man oft nur erahnen. Es ist nicht chronologisch aufgebaut, hin und wieder erscheint eine Figur, die der Leser schon vorher kennengelernt hat, jetzt aber in anderem Kontext.
Beim Schreiben wollte Schischkin keine Kompromisse eingehen. «Ich schreibe nur für meinen idealen Leser». Das Problem daran erkennt Schischkin selbst: «Du läufst Gefahr, dann, nachdem du das Buch fertig geschrieben hast, alleine, nur zu zweit mit deinem idealen Leser zu bleiben.» Wahrscheinlich erfüllen wirklich nur die wenigsten Schischkins Kriterien für seinen idealen Leser. Gerade im deutschen Publikum wird eine solche Kenntnis der russischen Geschichte, Literatur und Kultur, wie sie eigentlich Voraussetzung für die Lektüre des Romans ist, selten sein. Wenn die Sätze gerne auch über bis zu anderthalb Seiten gehen oder sich in manchen Abschnitten ein Zitat an die nächste Anspielung reiht, vergeht einem phasenweise die Lust am Lesen.
Der eine Ich-Erzähler im Buch – mit Namen Michail Schischkin – wird oft von den «Athenern» mit «Hypereides» angesprochen, einem griechischen Redner und Politiker. Die Vielfalt des thematischen Stoffes reicht von griechischer, ägyptischer und slawischer Mythologie über mittelalterliche Chroniken, Figuren und Werke der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts bis zu Berichten aus der Stalinzeit und dem Leben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. In allen Zeiten und an allen Orten erklingen die traurigen Schicksale Einzelner, die aber wohl symbolisch für das Gros der russischen Bevölkerung stehen sollen. Sie erleiden Kriege und Verbrechen, verlieren ihren Partner oder ihr Kind, schleppen sich durch die Tristesse eines mühevollen Lebens.
Das Buch beginnt mit dem Auftakt einer Gerichtsverhandlung, um dann die Erschaffung der Erde aus der Sicht dreier altslavischer Gottheiten zu beschreiben, die aus einem Zugabteil heraus die Welt aufbauen. Überhaupt findet sich das Motiv Zugfahrt sehr häufig, ebenso wie Gerichtsprozesse. Auch die Geburt eines Kindes wird mehrfach aufgegriffen. Dieses Ereignis bedeutet Glück, das Baby scheint auf wunderbare Weise sinnstiftend zu wirken. Es ist etwas durchweg Positives, auch wenn den Müttern allzu oft ein trauriges Schicksal widerfährt. Sie begehen Selbstmord oder verunglücken auf tragische Weise. Die Liebe zwischen Mann und Frau – sie ist hier keine großartige, romantisch verklärte Kraft. Die Beziehungen sind größtenteils unglücklich, oft leiden die Frauen und genauer die Mütter noch mehr als die Männer.
Hier sind einige Parallelen auffällig. Es gibt zwei immer wiederkehrende Protagonisten, die Ich-Erzähler Alexander Wassiljewitsch, ein Anwalt, und den schon erwähnten Michail Schischkin. Letzterer reflektiert in den 90er-Jahren von der Schweiz aus das Leben in Moskau. Genau wie der Autor Schischkin ist die Figur im Buch erst Journalist für eine Zeitschrift gewesen, dann Lehrer. Zwischen den Ich-Erzählern Michail Schischkin und Alexander Wassiljewitsch finden sich mehrere Gemeinsamkeiten: Beide erleiden ein Unglück mit ihrem Kind, das eine ist geistig behindert, das andere stirbt bei einem Autounfall. Die Ehen überleben das jeweils nicht, beide Ehefrauen begehen Suizidversuche und werden in die Psychiatrie eingewiesen.
Man kann Schischkins Werk auch insoweit als Jüngstes Gericht sehen, dass es eine Abrechnung mit Russland ist. Er hat diesen Roman in der Schweiz verfasst, nachdem er sein Vaterland schon vier Jahre zuvor verlassen hatte und beschrieb sein Werk als einen «Roman über die russische Vergangenheit, die eigentlich nie aufhört, unser Präsens zu sein». Sein privates Schicksal und das des gesamten Volkes hat er hier mit aufgegriffen.
Die Frage nach dem Guten und Bösen im Menschen, nach Recht und Unrecht wird immer wieder diskutiert. Größtenteils erscheint der Mensch als nicht böswillig, sondern Opfer seiner Umstände. Gerechtigkeit tritt oft nicht ein. Um das zu zeigen, manipuliert Schischkin gar die Bibel: Anfänglich erscheint alles wie in der Vorlage, die in diesem Abschnitt handelnde Figur namens Motte ist hier gleichzusetzen mit Moses. Der Stimme aus dem brennenden Dornenbusch gehorchend, versucht Motte den Pharao, offenbar Stalin, zu überzeugen, das ägyptische (=russische) Volk ziehen zu lassen. Getreu dem Original der Bibel überziehen Motte und Gott das Land mit den biblischen zehn Plagen in der richtigen Reihenfolge. Das Ende aber überrascht: «Da rief der König der Ägypter Motte zu sich und sprach: ,Ätsch, ich lasse euch trotzdem nicht ziehen.‘ Und der König der Ägypter verstockte sein Herz mehr denn je, und er quälte sein Volk, und die Pein nahm kein Ende. Da aber haderte Motte mit seinem Herrn und sprach: ,Wie kann das sein?‘ Und der Herr […] zuckte die Schultern und schwieg.»
Ist hier der Bezug zur Bibel offensichtlich, so muss man an vielen anderen Stellen dem Übersetzer Andreas Tretner für die hinten angeführten Anmerkungen dankbar sein. Ohne diese wären viele Andeutungen und Zitate für Nicht-Russland-Experten unverständlich oder überhaupt gar nicht erst zu erkennen. Vor allem jedoch gebührt ihm großes Lob für die Übersetzung des sprachlich und inhaltlich so anspruchsvollen Buches.
Tretner verglich das Werk mit der Betrachtung eines Freskos, an das man ganz nah herantritt, aber dann auch wieder zurücktreten muss, um das gesamte zu erfassen und dies viele Male. Sehr treffend bemerkt Tretner: «Das ist nun nicht die übliche Methode, einen Roman zu lesen, aber wen es packt, der wird belohnt».
Damit hat er Recht. «Die Eroberung von Ismail» ist keine leichte Sommerlektüre, die zwischen Strand und Einkaufsbummel zur Hand genommen werden kann. Das Buch gehört zu denen, die man mehrmals lesen muss, um einem Verständnis näher zu kommen. Hier muss sich der Leser anstrengen, er muss mit den so bedeutungsvoll aneinandergereihten Worten, Hypertaxen und Anspielungen kämpfen und gleichzeitig gegen den Wunsch, immer wieder gar zu komplexe Absätze zu überspringen. Aber wer sich hier die Mühe macht, der kann eine wahrhaft vielseitige, vielstimmige Darstellung Russlands erobern.
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Michail Schischkin: Die Eroberung von Ismail. Roman (original: Wsatije Ismaila). Aus dem Russischen von Andreas Tretner. ISBN: 978 3 421 04643 7. Deutsche Verlagsanstalt, München 2017. 512 Seiten, 26,99 EUR.
Die wörtlichen Äußerungen Schischkins sind einem Interview mit Felix Münger (SRF 2 Kultur) entnommen. Zum vollständigen Beitrag geht es hier .
Außerdem wird ein weiteres Gespräch mit Michail Schischkin bei Radio SRF 2 Kultur am Sonntag, dem 20. August 2017 um 11:03 Uhr und 20:00 Uhr ausgestrahlt. Live erleben kann man den Autoren auch am Dienstag, dem 05. September, im Literaturhaus Zürich.