Rock n Roll made in USSR: Die Band «Kino», der russische Rock der Achtziger und sein Erbe
Rock n Roll made in USSR: Die Band «Kino», der russische Rock der Achtziger und sein Erbe
von Emil Herrmann
Der Rock n Roll kam in den Sechzigern in die Sowjetunion. Nachdem es anfänglich hauptsächlich Bands und Künstler gab, die eher wie Imitate ihrer westlichen Vorbilder wirkten, bildete sich schnell ein eigener russischer Stil von Rockmusik heraus. Erst in den Achtzigern allerdings war die große Stunde des russischen Rock gekommen. Bands wie «Kino», «Zoopark», «Nautilus Pompilius» oder «Aquarium» fanden sich in den Untergrundszenen und Rockclubs in Leningrad (heute St. Petersburg), aber auch in Sverdlovsk (heute Jekaterinburg) zusammen. Mit der Lockerung der Kulturpolitik unter Breschnew und Gorbatschow entwickelten sich einige der Untergrund-Rocker über das Jahrzehnt hinweg zu festen Größen der russischen Kulturlandschaft, welche auch heute noch Musikerinnen und Musiker in Russland und anderen Ex-Sowjetstaaten beeinflussen. Allen voran, Viktor Zoi mit seiner Band «Kino».
Die Untergrund- Szene Russlands – Illegale Konzerte auf «Kwartinikis» und selbstgemachte Kassettenaufnahmen
1981 wurde in im damaligen Leningrad (heute St. Petersburg) der «Leningrader Rockclub» gegründet. Die Eröffnung dieser, für die sowjetische Führung eher untypischen Institution, war eine Reaktion des Staates auf die steigende Popularität von Rockmusik innerhalb der Jugend der Sowjetunion und der großen Ansammlung von Bands im Untergrund Leningrads. Der Staat versuchte die Szene aus dem Untergrund auf seine eigene Bühne zu holen, wo er sie besser im Blick hatte und zügeln konnte. Tatsächlich war es damals so – ähnlich wie in der DDR –, dass Bands die im Rockclub auftreten wollten, ihre Musik zunächst einem Komitee präsentieren mussten, welches darüber entschied, ob der die Lyrics und der Klang der Songs angemessen für die Ohren der sowjetischen Jugend waren oder nicht. Sollten die Texte oder auch der Klang der Künstler nicht staatskonform sein, so wurde den Bands angeboten ihre Musik zu verändern um dennoch auftreten zu können.
Der Plan der konservativen Behörden, die progressive Rockszene unter Kontrolle zu bekommen ging jedoch nicht ganz auf. Zwar verbannte man einige sehr kontroverse Bands wie die Punkgruppe «Graschdanskaja Obarona» (dt. Bürgerwehr) vom Rockclub, doch gleichzeitig bot man den Künstlern der Szene eine größere Plattform, auf der sie ihre schrille Musik einem nimmersatten jugendlichen Publikum präsentieren konnten. Die Stücke mit ebenso schrillen und kontroversen Botschaften folgten dann bei Gelegenheit, abseits des Rockclubs. Zum einen gab es sogenannte «Kwartiniki». Dabei handelte es sich um Konzerte, die illegal in Wohnungen veranstaltet wurden. Da sich mehr oder weniger alle in der Rockszene Leningrads kannten und gegenseitig einluden, hatten die Partys eine relativ große Reichweite. Die Wohnungen platzten aus allen Nähten und es wurde wild gefeiert.
Zum anderen gab es da noch die Kassetten. Die meist durch Handarbeit der Bands selbst gefertigten Tonträger hatten eine noch größere Reichweite. Sie wurden 20 bis 30-fach an Freunde der Band verteilt, welche die Kassetten wiederum selbst vervielfältigten und weiterverteilten. Die Ankunft der Kassettenaufnahme war ein wichtiger und großer Schritt für den sowjetischen Untergrund-Rock, der nun in nie dagewesener Form, auch wenn die Qualität der Aufnahmen durch die zahlreichen Kopien sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde, sein Produkt im ganzen Land verbreiten konnte. Auf den Kassettenrecordern der Jugendlichen und in den Clubs der UdSSR wurde nun immer mehr einheimischer Rock gehört.
Eine eher unbekannte Schlüsselfigur des Achtziger-Rocks in Russlands war Andrej Tropillo, der buchstäblich am laufenden Band Rock-Gruppen der Untergrundszene in seinem Aufnahmestudio in Leningrad aufnahm. Dieses Aufnahmestudio zur Verfügung zu haben, bedeutete für die Künstler mehr Ruhe und Spielraum im Gestaltungsprozess ihrer Musik und ihren Veröffentlichungen. So konnte die Musik verfeinert und professionalisiert werden. Zuvor gab es lediglich Mitschnitte von Konzerten der Bands, die meist nur eine sehr schlechte Qualität aufwiesen. Im Laufe der Achtzigerjahre konnte die Szene mit diesen verbesserten Bedingungen und auch durch die Lockerung der politischen Spielregeln durch Gorbatschows Glasnost und Perestroika weiter wachsen, an Popularität gewinnen und schließlich zum Mainstream werden.
Die sowjetischen Beatles – Viktor Zoi und die Band «Kino»
Unter den zahlreichen Bands der Leningrader Szene stach eine Person, beziehungsweise eine Gruppe besonders hervor. Viktor Zoi, gebürtiger Leningrader und Sohn einer Russin und eines Koreaners, trat als eher unscheinbarer Gitarrist und Sänger 1980 auf den Platz des Geschehens. Er war gerade von der Serow-Kunstakademie geflogen, als er Boris Grebenschtschikow von der Rockgruppe «Aquarium» kennenlernte. Dieser erkannte das Talent des jungen Musikers und nahm ihn unter seine Fittiche. Seinen ersten Auftritt hatte Zoi beim 1. Leningrader Rockclub Konzert. Mit seinem Freund Alexei Rybin gründete er die Gruppe «Garin i giperboloidy», benannt nach einem Science-Fiction-Film. Wenige Monate später schon hieß die Band „Kino». Sie würde in den kommenden Jahren Musikgeschichte schreiben. Das erste Album «45» veröffentlichte die Gruppe 1982. Es war mehr oder weniger eine Zusammenstellung von den bisherigen Aufnahmen der Band. Zoi haderte später damit, es als wirkliches Album zu bezeichnen. Auch wenn er selbst nicht überzeugt von der Qualität des Tonträgers war, die Hörerinnen und Hörer waren es. Die Musik der Band war zu dieser Zeit noch sehr simpel. Dominiert wird der Sound von Zois eindringlicher Stimme und einfachen Melodien, gespielt auf einer Akustikgitarre. Eine Vielzahl von Titeln auf dem Album verleihen ihm ein angenehm ruhiges und verträumtes Singer/Songwriter-Feeling. So zum Beispiel auch der Song «besdelnik no. 1» in dem Zois aus der Sicht eines «Taugenichts» singt. Hier ein Auszug aus dem Songtext:
Ich bin ein Taugenichts, Taugenichts, oh oh…
Ich bin ein Taugenichts, oh oh, Mutter, Mutter
In der Menschenmenge
bin ich wie eine Nadel im Heuhaufen
Und wieder bin ich ein Mann ohne Ziel.
Abhängen,
Spazieren den ganzen Tag
Ich weiß nicht, Ich weiß gar nichts, oh oh
Auf dem Album fanden sich jedoch auch kritische Stücke, wie «Elektritschka», in dem es um einen Mann geht, der in einem Zug festsitzt, welcher in die falsche Richtung fährt, wobei die beschriebene Situation eine Metapher für das Leben in der UdSSR ist. Schon bald wurde es «Kino» verboten den Song bei ihren Auftritten zu spielen, unter den Jugendlichen war er ein Hit.
Blutgruppe «Kino» – Das Album «Grupa Krovi» und «Kinos» großer Durchbruch
Nach einigen Auftritten trennte sich die Band bereits, um sich 1984 in veränderter Besetzung – nun mit Juri Kasparian an der Gitarre; Alexander Titow am E-Bass und Georgi «Gustaw» Gurjanow am Schlagzeug – wieder zusammenzufinden. Zoi war nach wie vor Sänger und Frontmann der Band. Bis 1987 blieben „Kino» auf einem relativ hohen Niveau erfolgreich. In diesem Jahr jedoch überstiegen sie mit ihrem legendären Album «Grupa Krovi» (dt. Blutgruppe) alle Erwartungen und Erfolge. Eine regelrechte «Kinomania» brach in der gesamten Sowjetunion aus. Das in Sachen Klangqualität mit westlichen Veröffentlichungen vergleichbare Album, welches «Kinos» sehr einzigartigen melancholischen und dunklen New Wave-Stil nahezu perfekt verkörpert, machte die Gruppe um Viktor Zoi zur erfolgreichsten Band in der Geschichte der UdSSR. Die Lyrics auf dem Album waren, wie von Zoi gewohnt, innovativ und poetisch. Der Song «Grupa Krovi» wurde sogar zusätzlich zur russischen Version auf Englisch veröffentlicht, denn selbst im Westen bekam man Wind von der «Kinomania». So spielten «Kino» unter anderem Auftritte in Dänemark und den USA. Trotz dem enormen Erfolg arbeitete Viktor Zoi weiterhin als Heizer in einem Leningrader Mehrfamilienhaus, da die Tonträger der Bands oft kopiert wurden, und so nur wenig Erlös bei den Musikern hängenblieb. Neben der Musik widmeten sich «Kino» auch dem Film. Im Kriminal- und Liebesdrama «Assa», der als «Film der die Sowjetunion zu Fall brachte» bezeichnet wurde, sind sie als Band zu sehen. Im Film «Igla» (dt. Nadel) spielt Zoi die Hauptrolle.
«Kino» werden heute oft als sehr politisch gedeutet. Sie waren aber keinesfalls eine reine Protestband. Auch wenn ein großer Teil ihrer Musik immer wieder implizite und seltener auch explizite Kritik am System der Sowjetunion beinhaltete, handelten viele Songs der Gruppe von persönlichen Themen wie jugendlicher Orientierungslosigkeit, den langen Wintern Russlands oder der guten alten Liebe.
Vor allem durch Glasnost und Perestroika und der damit verbundenen gelockerten Stimmung im Land, die auch Künstlern mehr Freiheiten bot, artikulierten sich „Kino» in einigen Songs noch deutlicher als zuvor – auch wenn Zoi und die anderen Mitglieder der Band dies immer wieder bestritten – in ihrer Kritik am Regime und wurden dadurch zu Hymnenbringern der sich in Aufbruchsstimmung befindenden jüngeren sowjetischen Bevölkerung. Ob nun gewollt oder nicht – mit dem Song «Peremen» (dt. Veränderung) sprach Zoi seinen Fans aus der Seele.
Veränderungen brauchen unsere Herzen,
Veränderungen brauchen unsere Augen,
In unserem Gelächter und in unseren Tränen
Und im Pulsieren unserer Venen
Veränderungen!
Wir erwarten Veränderungen!
Der frühe Tod Viktor Zois
1990 spielten «Kino» das größte Konzert ihrer Karriere im olympischen Luschniki-Stadion in Moskau, zu dem 62.000 Fans erschienen. Es sollte auch ihr letztes sein. Im Sommer selben Jahres wollte Viktor Zoi von Lettland, wo er die Gesangsaufnahmen für das neue Album der Band fertiggestellt hatte, zurück nach Leningrad fahren um mit den anderen Bandmitgliedern weiter an den Aufnahmen zu arbeiten. In den Morgenstunden des 14. August 1990 prallte er in seinem Kleinwagen auf einer Fernstraße mit einem Omnibus zusammen und war sofort tot. Die Tonbänder mit den Gesangsaufnahmen waren einer der wenigen Dinge im Auto, die den tragischen Unfall überstanden. Die verbliebenen Bandmitglieder spielten rund um die Aufnahmen ihre Instrumente ein und kreierten somit das letzte Album der Gruppe. Zu Ehren Zois und der Trauer um seinen Tod bekam es den Namen «Tschorni Album» (dt. Schwarzes Album).
Der Tod Zois schockierte große Teile der sowjetischen Jugend zutiefst. Für sie war einer ihrer Helden gestorben. Mehrere Fans brachten sich in ihrer Trauer um den nun definitiv als Musiklegende manifestierten Künstler sogar um. Das Vermächtnis, das Viktor Zoi hinterlässt ist riesig. Bis heute sind ihm Gedenkmauern und große Gemälde an Häuserwänden gewidmet. Zu seinem Grab in St. Petersburg pilgern nach wie vor immer wieder Fans von jung bis alt. Und auch wenn die «Kinomania» vorüber ist, bleibt der Ausruf «Zoi schit!» (dt. Zoi lebt!) immer noch ein Satz der auch Jugendlichen in ganz Russland bekannt ist.
Das Ende einer Ära und was heute noch von ihr übrig ist
Der russische Rock der Achtziger hat Legenden geschaffen und als musikalischer Antrieb der progressiven Jugend der UdSSR in gewisser Weise sogar die Geschichte des Landes geprägt. Nach Viktor Zois Tod und dem Zerfall der Sowjetunion wurde es allerdings ruhiger um die Künstler dieser Ära. Einige, wie «Nautilus Pompilius» oder «DDT» sind bis heute sehr populär, doch neue Bands, die sich im Rahmen des New Wave/Post-Punk-Genre der Ära bewegten kamen kaum nach. In den Neunzigern veränderte sich der russische Rock stark. Bands mit einem härteren Sound und Metal-Einschlag wie «Korol i Shut» (dt. König und Narr) färbten die Rockszene neu ein. Erst Mitte der 2010er-Jahre tauchten die alten Geister des russischen 80er-Rocks wieder auf. Dieses Mal mit weniger Kajal an den Augen und ohne punkige und toupierte Haare. Aktuelle Bands wie «Molchat Doma» aus Weißrussland oder «Chernikovskaya Hata» und «Mat Teresa» aus Russland sind deutlich von «Kino» und Konsorten inspiriert. Sie schaffen einen neuen kontemporären New Wave/Post-Punk-Sound, mit neuen Aufnahmetechniken und teilweise vielen elektronischen Einflüssen, der eindeutig mit dem ihrer Kollegen aus den Achtzigern verwandt ist. Die Lyrics der Bands spiegeln oft das harte Leben in russischen Städten zwischen Plattenbau-Chruschtsowkas und Fabrikgestank wieder. Durch das oft dumpfe Klangbild wird diese Atmosphäre zusätzlich instrumental verstärkt.
Insbesondere «Molchat Doma», die eine beträchtliche Popularität in Großstädten wie Berlin erreicht haben, sind international sehr gefragt. Im Zeitalter des Internets, welches den Zugriff auf fremde Kulturgüter in bedeutendem Maße vereinfacht, verbreitet sich die Musik vor allem durch die millionenfach geklickten, sogenannten «Russian Doomer Playlists» auf YouTube, in denen alte und aktuelle New Wave und Post-Punk Bands aus Russland und der ehemaligen Sowjetunion zu hören sind. Unter anderem mithilfe dieser Playlists geben sich viele junge Menschen in westlichen Ländern auch heute noch der einzigartigen, mysteriösen und melancholischen Atmosphäre, welche die Musik zu schaffen vermag hin.
Weiterführende Links:
Die Songs «besdelnik no. 1» und «Peremen»
Eine der Russian Doomer-Playlists
Der Film «Assa» kostenlos in ganzer Länge und mit englischen Untertiteln
Der Film «Leto» in ganzer Länger, ein Spielfilm über die Szene der Achtziger in St. Petersburg
Die Dokumentation «Rok» auf Russisch