30Jahre MIR in Bayern: Interkulturelle Begegnungen
30Jahre MIR in Bayern: Interkulturelle Begegnungen
2021begeht MIR e.V., Verein für kulturelle Beziehungen (Zentrum russischer Kultur in München), sein 30. Gründungsjahr. Aus diesem Anlass erlauben wir uns einen Rückblick auf die Geschichte des Vereins, der 1991 in München als Brücke zwischen der russischen und der deutschen Kultur, gegründet wurde und in der Schwabinger Seidlvilla sein Domizil gefunden hat.
30 Jahre MIR e.V. – sind drei Jahrzehnte ehrenamtlicher Arbeit im Sinne der Völkerverständigung und des Friedens.
Aus der Geschichte von MIR e.V.:
Als Tatjana Lukina vor 30 Jahren den deutsch-russischen Kulturverein „MIR e.V.“ in München gründete, dachte sie, als gelernte Schauspielerin, vor allem an ein Internationales Theater.
Von 1985 bis 1987 organisierte sie mit den Künstlerkollegen aus dem Kreis der Exil-Russen im Kulturzentrum „Gasteig“ drei Jahre lang „Russische Theatertage“.
Beflügelt vom Erfolg der ersten Veranstaltung „Abend der russischen Poesie“, von der die Zeitung „Münchner Merkur“ schrieb, dass die Eintrittskarten dafür schwieriger zu haben seien als für das legendäre Moskauer „Taganka-Theater“, entschied sie sich, den Sprung in Richtung eines Theater-Festivals zu wagen. Mit minimalen finanziellen Mitteln, ohne eigene Proberäume (man probte eine Zeitlang in verschiedenen Dachräumen der Münchner Kunstakademie), gelang es ihr mit den Schauspielkollegen (Regisseuren Lew Kruglyj, Jonas Juraschas, Anatolij Skakowskij, Dramaturgen Taissija Iwanowa und Raymond Zoller) solche anspruchsvolle Stücke wie „Tage unseres Lebens“ von Leonid Andrejew, „Arme Leute“ nach Fjodor Dostojewskij, „Die Chorsängerin“ nach Anton Tschechow und „Ein Lebemann“ nach Vladimir Nabokov zweisprachig, in Russisch und Deutsch, aufzuführen.
In seiner Radioreportage für die Deutsche Welle verglich der Theaterkritiker und Regisseur, Wasilij Setschin, diese Inszenierungen mit keinem geringeren als mit dem berühmten MHAT – Moskauer Akademischen Künstlertheater.
Nach einem so erfolgreichen Auftakt blieb Tatjana Lukina nichts anderes übrig, als sich der Gründung eines Kulturvereins zu widmen. Zu jener Zeit beendete sie ihr Studium an der Münchner Universität mit einer Magisterprüfung im Fach „Theaterwissenschaft“. Das war ihr drittes Studium, nach dem Schauspiel und der Journalistik, die sie in ihrer Heimatstadt Leningrad (heute St. Petersburg) absolviert hatte.Ihre Überlegung bei der Gründung des deutsch-russischen Kulturvereins war, den in Bayern lebenden russischen Künstlern eine neue Heimat zu geben. Wobei der Begriff „russisch“ war für Lukina weder geografisch noch konfessionell begrenzt.
Tatjana Lukina war und ist stets bemüht, durch MIR-Projekte ihren russischen Künstlerkollegen eine Möglichkeit der Mitarbeit zu schaffen, um sie in die deutsche Kulturszene zu integrieren, und zusammen mit ihnen Respekt und Sympathien sowohl bei den deutschen Kollegen, als auch beim anspruchsvollen Münchner Publikum zu ernten.
In jener Zeit traten Entwicklungen ein, die das Vorstellungsvermögen der optimistischsten Politiker überstiegen. Zu den im Wortschatz des westlichen Menschen längst adoptierten „njet“, „dawaj“, „na sdarowje“ kamen die Begriffe „Glasnost“ und “Perestroika“ hinzu. Vor den Augen der Fernsehzuschauer der ganzen Welt fiel die Berliner Mauer, und im Westen herrschte das Gorbi-Fieber, da man in Michail Gorbatschow den Hauptverursacher der bemerkenswert unblutigen politischen Umwälzungen in den Ländern Osteuropas sah.
Kein Russe war wohl jemals bei den Europäern, und insbesondere bei den Deutschen so beliebt wie Gorbatschow, und niemals hatte der russischer Geist so viele Fans und Bewunderer, wie in den Jahren der “Perestroika“, in der so genannten „Gorbi-Epoche“. Dies war das „goldene Zeitalter“ der russischen Kultur im Westen.
Ergriffen von der emotionalen Welle, die Deutschland erfasst hatte, organisierte Tatjana Lukina im Frühjahr 1991 einen „Monat der russischen Kultur“ in München, und versammelte um sich sämtliche damals in der bayerischen Landeshauptstadt lebenden Persönlichkeiten aus Literatur und Kunst.
Schauspieler, Musiker und Schriftsteller traten unentgeltlich auf, Regisseure, Übersetzer und alle Organisatoren arbeiteten umsonst. Der Eintritt war frei, jedoch wurden Spenden gesammelt, die letztlich als Altershilfe an Künstler und Schauspieler in Moskau und Leningrad geschickt wurden.
Von einem solchen Erfolg dieses Festivals hätte niemand zu träumen gewagt, und so eine großartige Resonanz in der Presse und eine solche Besuchermenge hatte niemand erwartet. Nur in der Woche des Festivals konnten die Organisatoren mehr als 500 Umfragebögen sammeln, in denen einheimische Münchner und Bayer mit ihrer Unterschrift die Gründung des Vereins „MIR e.V.“ unterstützten, der zum ersten „Zentrum russischer Kultur“ in Westdeutschland wurde.
Als Symbol für Frieden und Universum bekam er den Namen „MIR“.
Dank dem Enthusiasmus und der selbstlosen Arbeit seitens wichtigster Akteure des Vereins, existiert er nun seit einem viertel Jahrhundert.
Gegenwärtig zählt „MIR“ ca. 200 Mitglieder, deren Mehrheit aus gebürtigen Bayern besteht. Darunter sind Journalisten, Schriftsteller, Lehrer, Studenten, Ärzte, Künstler, Unternehmer, Beamte, Krankenschwestern, Hausfrauen und sogar Polizisten. Es sind auch Veteranen des Zweiten Weltkriegs darunter, die vor siebzig Jahren gegen die UdSSR gekämpft haben, darunter ehemalige Kriegsgefangene.
Sie alle setzen sich gemeinsam für den Frieden ein.
Größter Beliebtheit erfreuen sich die MIR-Abende an traditionellen russischen Festtagen, wie beispielsweise dem Weihnachtsfest. Die Seidlvilla mitten in Schwabing, in der seit über 25 Jahren an jedem 7. Januar das „Russische Weihnachten“ gefeiert wird, ist stets bis auf den letzten Platz mit den deutschen und russischen Gästen gefüllt. Die Münchner „Abendzeitung“ schrieb einmal: „Die Seidlvilla platzt an den MIR-Abenden aus allen Nähten“.
„Es ist bemerkenswert“, sagt Tatjana Lukina, „dass ich jedes Mal irgendeinen aus der Münchner Urbevölkerung treffe, der auf dieser Feier von Herzen lacht und ganz bestimmt ausruft: ‚Wie toll sich die Russen amüsieren können! Was für eine bemerkenswerte, herzliche Atmosphäre!’ Und wenn man entgegnet, dass 70 Prozent der Gäste keine Russen, sondern Bayern sind, herrscht große Verwunderung. Und das alles nur deswegen, weil auf den MIR-Abenden eben auch die Bayern für ein paar Augenblicke zu Russen werden, und umgekehrt auch. Und das nenne ich Völkerverständigung.“
Außer der literarisch-musikalischen Veranstaltungen, Konzerten, Vorträgen, Ausstellungen, Seminaren usw., gibt MIR e.V. auch die Bücher und literarischen Kalender heraus, die mit den Großen der russischen Kultur bekannt machen und die jahrhundertlange Beziehungen zwischen Russland und Deutschland unterstreichen.
Unter ihnen sind: „Die schönen Russinnen“ (1996) und „Russische Spuren in Bayern“ (1997), die Sammelbänder „10 Jahre MIR“, „Begegnungen mit der russische Kultur“ usw. mit einmaligen Dokumentationen und Briefen. Erstmals wurden dort auch die Briefe Lew Kopelews (1912-1997) veröffentlicht, in denen er seine Gedanken zu den Problemen der russischen Kultur nach der Perestrojka und dem Zerfall der Sowjetunion mitteilt.
Der Jubiläumskalender „Tjutschew-Frühling in Bayern“ wurde dem großen russischen Dichter Fjodor Iwanowitsch Tjutschew, der über 20 Jahre (1822-1844) in München als Diplomat gearbeitet hatte, gewidmet, und wurde zu einem Bestseller.
Sehr schnell waren vergriffen auch der zweisprachige Kalender „Eine Hommage an Sankt Petersburg“, den der Verein dem 300. Stadtjubiläum der legendären „Venedig der Norden“ widmete, und die literarischen Kalender „Zu zweit mit Tchechow“ (2005) und „Geschichte einer Freundschaft: Heinrich Heine und Fjodor Tjutschew“ (2006).
2008 widmete der Verein einen Jubiläumskalender der Mitgründerin des „Blauen Reiters“, der russischen Malerin Marianne von Werefkin. Anlässlich des 850. Geburtstags von München gab der Verein den zweisprachigen Sammelband „Das russische München“ heraus, an dem über 30 Autoren und Übersetzer tätig waren und der das Leben der Russen in der bayerischen Hauptstadt in den letzten 200 Jahren darstellt.
Danach folgten die zweisprachige Kalender-Monografien „Russische Seele des Blauen Reiters“ (2012), „Maler Gabriel Glikman“ (2013), Romanow-Kalender (2014), Michail Lermontow-Kalender (2015) und zuletzt, für 2016 – „Schönheit wird die Welt retten“, „Väterchen Timofej“ (2017), „Das silberne Jahrhundert der russischen Kultur“ und „Alexander Schmorell und sein Weg vom Widerstandskämpfer zum Heiligen“ (2018), „Iwan Turgenjew – der russischer Europäer“ (2019), „Unterwegs mit Tschechow“ (2020), „Fjodor Dostojewskij – Kenner der menschlichen Seele“ (2021) und „Die Magie der ‚Ballets Russes‘“ (2022) .
Wenngleich die Hauptaufgabe des Vereins die Pflege der kulturellen Beziehungen und der gemeinsamen historischen Wurzeln zwischen Russland und Deutschland ist, man beschäftigt sich auch intensiv mit dem Leben und dem Integrationsprozess der sog. russischen Diaspora.
In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl der russisch sprechenden Bevölkerung um ein Mehrfaches gestiegen. Aus diesem Grunde hat MIR eine Reihe von Programmen und Veranstaltungen eingeführt, die in russischer Sprache durchgeführt werden. Seit Anfang des Jahres 2000 hat MIR eine Kinder-Kunstakademie (heute wird von Elena Herzog geleitet), ein Choreographie-studio „Tänze der Welt“ unter der Leitung von Irina Mikhnovitch, und bis vor kurzem ein Senioren-Männer-Chor unter der Leitung von Anatolij Fokin (1947-2019) usw.
Außerdem widmet man sich der „Verewigung“ der „Russischen Spuren“ in Bayern. Dazu gehören auch die Einweihung der Gedenktafel für den Dichter und Diplomaten Fjodor Tjutschew an der Herzogspitalstrasse (1999) und die Errichtung des großartigen Tjutschew-Denkmales im Finanzgarten, der seitdem den Namen „Dichtergarten“ trägt (2003). Auch für die Einbringung in der Ainmillerstraße einer Gedenktafel für den Philosoph Fjodor Stepun (2004) oder der Benennung eines Weges nach der russisch-deutsch-schweizerischen Malerin „Marianne-von-Werefkin“ (2004) hat sich der Verein eingesetzt.
Es war nicht einfach für Tatjana Lukina vor 30 Jahren ein „Zentrum für russische Kultur“ in München zu gründen, aber noch schwieriger war es und ist es heute besonders, den Verein zu erhalten und mit Leben zu erfüllen, die Zeiten der Prüfungen zu überstehen und der Idee, Brücken zwischen den Menschen zu bauen, zu festigen und zu pflegen, treu zu bleiben.
Doch mit Hilfe der zahlreichen Gleichgesinnten und der Unterstützung der Bayerischen Regierung und der Landeshauptstadt München, gelingt es den MIR-Enthusiasten, drei Jahrzehnte.
2006 wurde unsere kulturelle Arbeit mit der Puschkin-Medaille der Russischen Föderation gewürdigt. 2011, zum 20. Gründungstag von MIR e.V. wurde Tatjana Lukina, als Gründerin und Präsidentin, von MIR e.V., für ihren „persönlichen Einsatz für die Vertiefung der deutsch-russischen Kulturbeziehungen“ mit einem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
Die Landeshauptstadt München würdigte Tatjana Lukina mit einer Ehrenurkunde „München dankt“. Im März 2014 übereichte ihr der Integrationsbeauftragte der Bayerische Staatsregierung mit den Worten „Sie haben sich um die Integration in Deutschland und Bayern verdient gemacht und zur Völkerverständigung beigetragen“ einen „Integrationsbrief“. 2019 wurde sie mit dem Freundschaftsorden der Russischen Föderation ausgezeichnet und im Jahre 2020 wurde ihr die Medaille „München leuchtet“ in Silber verliehen.
In seinem Hauptwerk „Bruder Karamasow“ sagte Fjodor Dostojewskij, dessen 200. Geburtstag MIR e.V. das ganze 2021 mit vielen Veranstaltungen und einem literarischen Kalender gedenkt:
„Meine lieben Freunde, habt keine Angst vor dem Leben! Wie schön ist das Leben, wenn man etwas Gutes und Richtiges tut!“ Dieses sein Zitat, wie „Die Schönheit wird die Welt retten“ hat MIR e.V. zu seinem Motto gemacht.
Das ist eine kurze, doch auch erfolgreiche Geschichte von MIR e.V.
(c) Tatiana Troynikowa, MIR-PR-Assistentin
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