Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass – Die Biographie einer Legende
Friedrich Joseph Haass lebte von August 1780 bis August 1853. Geboren wurde der spätere Arzt, auch genannt der „heilige Doktor“ von Moskau, in der Münstereifel. 1806 ging dieser nach Fertigstellung seiner Promotion mit der Petersburger Fürstin Repnin als ihr Hausarzt nach Russland. In Moskau hat er sich schnell einen guten Namen in der Medizin gemacht und wurde bereits im Juni 1807 als Chefarzt des Pauls-Krankenhauses in den Staatsdienst berufen. Neben dieser Anstellung, die er 1812 wieder aufgab, war er ohne Unterbrechung 21 Jahre in seiner Privatpraxis als Hausarzt des Moskauer Bürgertums tätig und betreute außerdem unentgeltlich und freiwillig die Kranken in den Armenhäusern der Stadt, verbesserte die Situation der nach Sibirien Verbannten und versorgte Obdachlose und Cholerakranke.
Die medizinischen Ansichten von Friedrich Joseph Haass sind seit Ausbruch der Pandemie aktueller als je zu vor. Nicht nur von seiner medizinischen Weitsicht können wir in der Gegenwart von dem deutschen Arzt lernen. Besonders zu Krisenzeit und im Angesichts des Krieges. Weltweit sind Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen im Einsatz, um Menschen in Not und Armut mit ihrem Wissen zu helfen und Leben zu retten. Dieser Einsatz schafft ein wichtiges Fundament für ein globales Miteinander.
Lesen Sie hier das Interview mit Herrn Prof. Dr. Dr. Dirk Kemper und erfahren Sie mehr über die Intention und Wichtigkeit dieses Buch zu schreiben (das Interview wurde vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine geführt).
Der Professor Dr. Dr. Dirk Kemper für Germanistik hat den Lehrstuhl für deutsche Philologie an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität und Direktor des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen. 2021 veröffentlichte der gebürtige Dortmunder die Biographie über den Arzt und Seelsorger für die Häftlinge und Armen in Russland. „Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass“ zeichnet das Leben eines Menschen, der sich bereits im 19. Jahrhundert für Werte und ein respektvolles Miteinander eingesetzt hat. Warum der „heilige Doktor“ bis heute vor allem in Russland verehrt wird, verrät uns der Autor Dirk Kemper in einem Interview mit Kulturportal Russland. Die Biographie kann hier erworben werden.
1. Herr Kemper, Sie haben das Buch “Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass, Biografie einer Legende” im Jahr 2021 veröffentlicht. Was hat Sie dazu bewogen als Professor für neuere Literaturwissenschaften und Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Philologie in Russland ein Buch über einen deutschen Mediziner zu schreiben, der sich durch sein medizinisches Handeln in Moskau verdient gemacht hatte?
Literaturwissenschaft beschäftigt sich schon lange mit sehr viel mehr als nur den Strophenformen bei Goethe. Für mich sind literarische Texte immer auch Versuche, die eigene Kultur zu beschreiben, die eigene Mentalität, das eigene Verhältnis zur Welt. Interessanterweise denken wir immer dann intensiv über die eigene Kultur nach, wenn wir mit fremden Kulturen konfrontiert werden: durch Bücher, Filme, Internet; durch Freunde, Nachbarn, Einwanderung; durch friedliche Begegnungen und leider auch durch Kriege. Das Aufregende sind die Austauschprozesse, durch die Grenzen überwunden und Grenzen verändert werden. Die Erforschung von solchen Austausch- oder Transferprozessen bildet mein eigentliches Arbeitsgebiet hier in Moskau. Dabei darf man nicht engstirnig danach fragen, ob etwas oder jemand in das Kästchen der Literaturwissenschaft fällt. Wichtig ist, dass man breit aufgestellt in der Kulturgeschichte unterwegs ist. Und wenn wir verstehen wollen, wie wir uns selbst und andere verstehen, gewinnt Literaturwissenschaft so auch wieder an Bedeutung und wird ganz einfach spannend. Zudem: Auch der „Mediziner“ Haass war breit aufgestellt. Er studierte Philosophie bei Schelling, veröffentliche Texte auf Französisch, Deutsch und Russisch und wird von den Russen nicht (nur) als Augenheilkundler, der er war, sondern als großer Humanist verehrt.
2. Zu Beginn des Buches machen Sie einen großen Bogen in die deutsche und französische Geschichte. Dabei gehen Sie auf die Veränderungen ein, die durch die französische “Besatzung” in Münstereifel eingetreten sind. Haass wird dabei zunächst wenig erwähnt. Warum haben Sie sich entschieden, den Leser mit auf die Reise dieser Geschichte zu nehmen?
Haass hat eine doppelte Jugend genossen; das ist ganz entscheidend für das Verständnis seiner Lebensleistung. Die erste war eine rein deutsche im damals beschaulichen Münstereifel und dauerte bis zu seinem 14. Lebensjahr. Die zweite begann 1794, als das linksrheinische Gebiet vom revolutionären Frankreich besetzt wurde. Da man in Paris den Rhein für die „natürliche“ Ostgrenze Frankreichs hielt, wurden die neuen Gebiete sofort kulturell umgepflügt und vereinnahmt. Schulen, Universitäten, Verwaltung, das gesamte öffentliche Leben fand in französischer Sprache und nach französischen Normen statt. Haass erlebte das als Gymnasiast, besuchte dann in Köln zunächst eine neue Hochschule französischen Typs. Er schrieb zeitlebens besser Französisch als Deutsch. Man darf sagen, auch die französische Sozialisation wurde ihm zu zweiten Haut. Das machte ihn nicht unkritisch. Dem Menschenrechtsdenken der ersten Revolution stand er nahe, den Napoleonischen Eroberungskriegen aber nicht. Was wir heute ‚außergewöhnlich‘ oder gar ‚heilig‘ an seinem Leben nennen, lässt sich nur verstehen, wenn man die Verschmelzung von rheinischem Katholizismus und der französischen Menschenrechtsdeklaration bei ihm erkennt, von Barmherzigkeit und Menschenliebe auf der einen und der Wertschätzung unveräußerlicher Menschenrechte auf der anderen Seite. Diese grundlegende Prägung erklärt viel von seinem späteren sozialen Engagement in Moskau. – Die weite Reise lohnt also, und überhaupt möchte das Buch dazu einladen, sich in der Kulturgeschichte um Haass herum umzusehen, zu flanieren und manchmal auch scheinbar weite „Umwege“ zu gehen.
3. Wie kam es, dass der deutsche junge Mediziner seinen Weg nach Russland fand und sich dort niederließ?
Wenn man sich durch die konkreten Umstände der Zeit belehren lässt, lieg darin gar nichts Außergewöhnliches mehr. Russland hatte schon seit Peter I. systematisch Fachkräfte aus Westeuropa angeworben, und deutsche Mediziner folgten dem Ruf in besonders großer Zahl. Um 1800 wurde das russische Gesundheitswesen von Deutschen dominiert, zumal Russland kaum erst angefangen hatte, eigene Mediziner auszubilden. Dazu fehlten auch die Universitäten. Nach der Moskauer 1755 wurden ab 1804 fünf weitere aufgebaut. Doch woher sollten die vielen Professoren kommen, die dazu benötigt wurden? Sie wurden international angeworben und insbesondere wieder aus Deutschland. Überall, wo Haass studierte, in Köln, Jena, Göttingen und Wien, war er umgeben von russischen Anwerbern und von Professoren, die den Angeboten auch folgten. Zudem lockte nicht nur der Osten, es schreckte auch der Westen, denn Napoleon kam mit seinen Armeen immer näher und besetzte Wien, als Haass dort unter schwierigen Umständen um seinen Doktortitel rang. Der russische Arbeitsmarkt, die Gehälter, die zugesicherten Sozialleistungen und die Lebensbedingungen wenigstens in den Metropolen lockten und zogen akademische Eliten in großer Zahl an. Man ging nach Moskau auch nicht in Einsamkeit und Fremde, vielmehr war die deutsche Gelehrtenrepublik dort bestens organisiert und bildete einen freundlichen Anlaufhafen.
4. Friedrich Joseph Haass wurde als “Heiliger Doktor Moskaus” bezeichnet. Was hat ihn, Ihrer Meinung nach, besonders als Menschen und praktizierenden Arzt seiner Zeit ausgezeichnet?
In der Tat: Wie hältst Du es mit der Heiligkeit? Das ist die Gretchenfrage im Zusammenhang mit Haass. Ich fühlte mich nicht berufen, dazu im Buch meine Stimme abzugeben; das vermögen Würdigere in Rom. Auch wenn ich bewusst keine Heiligengeschichte, sondern eine kulturhistorische Biographie schreiben wollte, habe ich dazu eine Meinung, die man auch herauslesen kann. Was an Haass anzieht, aber auch schon manche Zeitgenossen abgestoßen hat, ist die Unbeirrbarkeit und Bedingungslosigkeit, mit der er seinem inneren Kompass gefolgt ist. Und dieser Kompass war religiös, war katholisch geeicht. Die Nachfolge Christi hat er im Leben höher angesetzt als alle gesellschaftlichen Rücksichtnahmen, Konventionen und Erwartungen. Sein Engagement überschritt ständig die Grenze des Vernünftigen, und auch seine Freunde erlebten ihn als Fanatiker des Guten. Heiligkeit, so meine Überzeugung, liegt jenseits der Grenzen der Vernunft, besteht wohl in einer besonderen Nähe zu Gott. So kann man Haass Leben auch lesen, und in Russland, vor allem in Moskau, wird der „heilige Doktor“ in einer für uns unvorstellbaren Weise bis heute so verehrt.
5. Welche Aktualität haben die medizin-philosophischen Ansichten von Haass in Anbetracht der Corona-Pandemie? Kann die heutige russische und die deutsche Gesellschaft davon Neues lernen, vor allem im Umgang mit der Pandemie?
Der Cholera-Ausbruch, der Moskau und damit auch Haass 1830 erreichte, war der erste in Europa. Man wusste zu Beginn so wenig über den Erreger wie wir beim Ausbruch der Corona-Pandemie. Damals wie heute hielt man sich daher zunächst an das Erfahrungswissen aus früheren Pandemien: strenge Hygiene, Isolierung der Menschen und vor allem Unterbrechen der Reisewege. Der Staat kämpfte und errichtete hohe Schutzwälle, baute aber selbst gleich wieder Schlupflöcher ein. Die Gefahr der Cholera bedrohte das Russische Reich aus dem Süden. Entsprechend sollte das Militär den Kaukasus hermetisch abriegeln. Das wird auch so gewesen sein, doch auf die Seewege, auf Handel, Kommerz und Militäraktionen, wollte man nicht verzichten, und der Seeweg über das Kaspische Meer blieb offen. So kam die Seuche ins Mündungsdelta der Wolga und zog an ihrem Siedlungsstrang durch das Russische Reich und dann weiter nach Westeuropa. Auch wir haben die Flugverbindungen selbst in Virusvariantengebiete nie ganz gekappt – wofür wir gute Gründe hatten oder zu haben meinten. Ein zweites paralleles Grundproblem liegt darin, dass die staatlichen Maßnahmen von jedem einzelnen Bürger umgesetzt werden mussten beziehungsweise müssen, um effizient zu sein. Damals drohte man den Abweichlern mit Spießrutenlaufen, heute führen wir einen unausgesetzten Aufklärungsdiskurs, um zivilisiert zu überzeugen. Doch der Anteil der Menschen, die sich am Ariadnefaden der Vernunft durch das dunkle Chaos einer Pandemie führen ließen, war damals wie heute begrenzt. Das gilt weiterhin, auch wenn wir uns heute wissenschaftlich weit überlegen führen, weil wir das Covid19-Virus erkannt, analysiert und Impfstoffe dagegen entwickelt haben. Doch die Pandemie meistern wir damit auf keinen Fall. Die „Gegnerschaft“ gegenüber Wissenschaft und gesamtgesellschaftlicher Vernunft nimmt vielmehr zu. Wir steuern heute auf eine postrationalistischen Kultur zu. Demgegenüber blieb Haass konsequent auf der Spur der europäischen Aufklärung: Er vertraute seiner Wissenschaft, die Viren noch nicht kannte und über ansteckende Ausdünstungen des Wassers nachdachte, so sehr, dass er einen Cholera-Erkrankten öffentlich küsste, um seine medizinische Meinung von der Unmöglichkeit körperlicher Ansteckung zu bezeugen. Zudem setzte er auf Transparenz und Öffentlichkeit, erstellte Infektionsstatistiken und veröffentlichte sie – wie heute das Robert-Koch-Institut. Den publizistischen Ausgeburten der Angst sagte er damit den Kampf an.
6. Welche gesundheitlichen Lehren können die Leser Ihrem Buch entnehmen?
In seinem Denken über die Natur, das auch seine medizinischen Auffassungen bestimmte, war er seiner Zeit weit voraus. Zur Abholzung im Kaukasus schreibt er: „Es ist unglaublich, wie die Menschen so vermessen und so egoistisch sein konnten, sich in einer unüberlegten Weise Wohlstand auf Kosten der Nachkommenschaft zu verschaffen. Das ist Diebstahl an der Nachkommenschaft, dass man ihr einen Baum wegnimmt, wo man offenbar die Notwendigkeit erkennt, dass er da sein muss.“ Seine Grundhaltung war „grün“, sein medizinisches Denken „alternativ“. Ganzheitlichkeit lautet das entscheidende Stichwort. Für die Anhänger des Philosophen Schelling, bei dem Haass studierte, gab es keinen Unterschied zwischen Menschen und Natur, zwischen Medizin und Biologie. Alles folgte denselben Gesetzen. Der Mensch war keine Maschine, sondern eine Einheit von Körper, Geist und Seele inmitten der Natur, und das veränderte die Diagnostik schon in Richtung Psychosomatik und anderem. Daneben waren die Schelling-Jünger Pioniere von Naturheilverfahren. Haass bereiste den Kaukasus, suchte und analysierte Mineralquellen und hatte Anteil daran, das daniederliegende Kurwesen wieder aufzurichten und zu entwickeln. Die Grundrichtung ist für uns heute noch wichtig oder interessant, weniger die Details der medizinischen Praxis.
7. Welchen Einfluss hatte Friedrich Joseph Haass auf die deutsch-russischen Beziehungen?
Es gibt nicht „die“ deutsch-russischen Beziehungen, sondern nur zahlreiche Erzählungen darüber, die ständig verändert und neu ausgehandelt werden. Das Lebenswerk des Friedrich Joseph Haass ist ein Erinnerungsort, der uns immer wieder Anlass gibt, trotz der Verdüsterung auf der großen politischen Bühne, die deutsch-russische Beziehungsgeschichte dennoch als Erfolgsgeschichte zu erzählen. Denn die drei Jahrhunderte von Peter I. bis heute sind voller Einzelpersönlichkeiten auf beiden Seiten, voller Mittlerfiguren zwischen den Kulturen, die unglaubliche Brücken gebaut haben, die auch in Zukunft tragfähig bleiben, wenn sie denn gesehen und begangen werden. Es sind Figuren wie Haass, die in Russland nach wie vor ein sehr positives Bild von Deutschland und den Deutschen prägen, das in politischen Verwerfungen zwar zuweilen ramponiert anmuten mag, letztlich aber erstaunlich stabil bleibt. Erinnerung aber lebt von Pflege und Wiederauffrischung. Es lohnt sich, immer wieder über Mittler wie Haass zu schreiben. Deshalb wäre ich auch sehr froh darum, wenn sich die Möglichkeit einer russischen Übersetzung des Buches ergäbe.
8. Unverkennbar ist die große Bewunderung der orthodoxen Russen zu ihrem Moskauer katholischen Doktor. Und auch der orthodoxe Geistliche Pater Mertes ist voller Hingabe für das Wirken von Dr. Haass. Gibt es aus Ihrer Sicht eine religiöse Anziehungskraft der Konfessionen, in der eine besondere Wertschätzung zwischen Deutschen und Russen durch all die Jahrhunderte mitschwingt?
Deutsche Protestanten haben in Russland eine große Rolle gespielt, seit Peter I. Pietisten ins Land holte und seine Kirchenreform nach protestantischen Vorbildern gestaltete. Beide Seiten reichten sich hier die Hand im Zeichen der Aufklärung. Auf katholischer Seite gestaltete sich das Verhältnis viel schwieriger, obwohl der theologische Abstand zur Orthodoxie viel geringer ist als zum Protestantismus. Aber gerade deshalb wird und wurde die katholische Kirche eher bekämpft, da sie als unmittelbare Konkurrenz wahrgenommen wurde. Ein Papstbesuch mit öffentlichen Gottesdiensten, an denen hunderttausende teilnähmen, erscheint in Russland völlig unmöglich. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden – durchaus aus ähnlichen Gründen – zudem die slawophilen Erzählungen über den Erzfeind „Rom“. Dostoevskij beispielsweise hielt den römischen Katholizismus für eine Form des westlichen Anspruchs auf Universalherrschaft, der innig bekämpft werden müsse. Haass wirkte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch in einer weniger belasteten Atmosphäre. Für ihn war die tolerante Zusammenarbeit mit Orthodoxen und Protestanten im Gefängniskomitee völlig selbstverständlich, ebenso selbstverständlich, wie sein inneres konfessionelles Bekenntnis zum Katholizismus. Doch gerade, weil die Konfessionsbeziehungen so kompliziert sind, macht es Hoffnung, dass im 20. Jahrhundert die Initiative für das Heiligsprechungsverfahren für Haass auch von der orthodoxen Seite getragen wurde. Ein Volksheiliger ist er in Russland schon lange.
Haben Sie herzlichen Dank für das Interview lieber Herr Prof. Dr. Dr. Kemper!
Das Interview führte Anna Luisa Winkelmann