Arcadi Volodos gelingt im Haus für Mozart eine Schubert-Sternstunde, gefolgt von fiebrigen Schumann-Grenzgängen.
Sie ist eines der weitläufigsten, reichhaltigsten und gewichtigsten Klavierwerke von Franz Schubert, und doch wagte sich in 100 Jahren Salzburger Festspielgeschichte gerade einmal eine Handvoll Pianisten über die D-Dur-Sonate D 850. Das mag seinen Grund haben, erfordern doch die Dimensionen dieses viersätzigen Werks einen Gestalter, der über Kondition, Geduld und Geläufigkeit verfügt.
Die „Gasteiner“ Sonate besitzt die Züge der weitläufigen Bergwelt, die Franz Schubert während seines mehrwöchigen Aufenthalts im August 1825 zweifellos inspirierte. Wuchtig wirft sich Arcadi Volodos in die vollgriffigen Akkordmassive des Kopfsatzes, die der schroffen Granitgneisstruktur der Hochgebirgsriesen nachempfunden scheint. Der russische Pianist hat sich längst als bedeutender Schubert-Interpret etabliert, auch bei den Salzburger Festspielen brachte er binnen weniger Jahre die späte Sonaten-Trias sowie die bedeutenden Zyklen der Moments musicaux zum Funkeln.
Was den feinsinnigen Tastenpoeten auszeichnet, entfaltet er auch hier: nuancenreiche Dynamik und einzigartige Pian(issim)o-Kultur, die das Klavier zum Singen bringt. Das gelingt ihm vor allem im ausgedehnten Finalsatz, dessen lyrische Erzählhaltung voller Seitengedanken den Interpreten vor große Herausforderungen stellt. In Volodos‘ Händen entfaltet sich eine Belcanto-Arie ohne Worte, deren Fiorituren in silbrigem Diskantzauber höchste Kantabilität entfalten.
Viel Zeit nimmt sich der Pianist für den zentralen zweiten Satz, dessen „con moto“-Bezeichnung auch als ruhig schreitende Bewegung aufgefasst werden kann. Es gibt ja so viel zu sehen auf dem Weg, sanfte Grasberge, rhythmisch vertrackte Klangfelsen, wassergeisterhaftes Säuseln und zweistimmige alpine Volksliedhaftigkeit. Rezitativisch setzt Volodos Pausen zwischen diesen Szenen, die er jeweils in einer eigenen Färbung und dynamischer Rafinesse formt. Im Scherzo wiederum entdeckt er Echos, die man so bewusst als Naturschilderungen der Bad Gasteiner Himmelwand bislang nicht wahrgenommen hat. Nach einer Dreiviertelstunde ohne jegliche Längen – himmlisch oder nicht – lässt sich sagen: Hier hat man eine Sternstunde der Schubert-Interpretation erlebt.
Auf Schubert folgt – dramaturgisch schlüssig – Schumann: Den Kopfsatz der C-Dur-Fantasie hat man selten so zerklüftet, kühn, grenzgängerisch erlebt, als Wahnsinnswerk voller loser Nervenenden zwischen stählerner Dämonie und fragilem Seelendrama. Auch diese dramatische Zuspitzung hat etwas Faszinierendes, weil Volodos zwar seine virtuose Seite auslebt, diese aber in den Dienst einer buchstäblich fantastischen, fiebrigen Deutung stellt. Selbst dem Finale verweigert der Pianist dessen entspannenden Fluss, stetes Dehnen und Zerren verleiht diesem Satz eine latente Unruhe. Gipfelsturm und Teufelsritt, dazwischen traumzart lyrische Kinderszenen und – als Encore – das innige „Vogel als Prophet“: Der Tastenmagier Arcadi Volodos lässt keine Wünsche offen.
Erschienen in den Salzburger Nachrichten, am 15. August 2022.