„bald and bankrupt“ – Die abgelegene russische Provinz aus der Weitwinkelkamera eines YouTube-Vloggers
„bald and bankrupt“ – Die abgelegene russische Provinz aus der Weitwinkelkamera eines YouTube-Vloggers
von Emil Herrmann
Benjamin Rich alias „bald and bankrupt“ ist ein Reisevlogger aus England, der auf der ganzen Welt seine YouTube-Videos dreht. Eine Region der Welt hat es ihm aber besonders angetan – Russland und die früheren Sowjetstaaten. In zum Teil spannenden, tollkühnen aber wiederum auch sehr dokumentarischen Videos wirft „Mr. Bald“ ein neues Licht auf den alten Ostblock und inspiriert reiselustige Zuschauerinnen und Zuschauer dazu in Zukunft auch Russland und die ex-Sowjetstaaten als Reiseziele ins Auge zu fassen.
Wie aus Benjamin Rich „Mr. Bald“ wurde
Benjamin Rich wurde 1974 in England geboren und entdeckte seine Liebe zum Reisen nicht in Russland, sondern in Indien. Ursprünglich hatte er geplant dort im Rahmen eines gewöhnlichen Backpack-Trips einen Monat zu verbringen. Seine Begeisterung für die indische Kultur war allerdings so stark, dass aus dem geplanten Monat kurzerhand vier Jahre wurden. Nun jedoch zurück in den Ex-Sowjetraum: Der Zerfall der Sowjetunion war für den britischen Kosmopoliten ein prägendes Ereignis. Zum Anfang der chaotischen Neunziger zog es ihn – ursprünglich – wegen seiner Faszination für die weißrussische Gymnastikerin Svetlana Boginskaya – in die ehemalige Sowjetunion, wo er 1993 zwei Monate im wilden Russland der Neunziger und inmitten der russischen Verfassungskrise verbrachte. Laut eigener Aussage geriet er sogar zwischen die Fronten einer Schießerei vor dem Parlament in Moskau. Während dieser stürmischen Zeit, wurde das Interesse des Reise-Abenteurers für Russlands geweckt.
Vor seiner Zeit als YouTuber war er als Reisejournalist aktiv und hielt sich viel in zentralasiatischen Ländern, wie Tadschikistan und Kirgisistan auf, von wo aus er Artikel über die für viele Menschen im Westen fast gänzlich unbekannten Gesellschaften und Landschaften dieser Länder schrieb. Auch damals schien es das Ziel des Engländers zu sein, seinen Leserinnen und Lesern vor allem die einen Einblick in die Lebenswelten der in diesen Ländern wohnenden Menschen zu bieten. 2018 veröffentlichte er unter dem Pseudonym „Arthur Chinchester“ das Buch „The Burning Edge – Travels through the irradiated Belarus“ in dem er über Land und Leute der Tschernobyl-Zone Weißrusslands berichtet.
Kein gewöhnlicher Reise-YouTuber
Das erste Video seines YouTube-Channels „bald and bankrupt“ lud Rich im Juni 2018 hoch. Es trägt den Titel „I love India`s Policewomen“ und wurde mittlerweile über eine Millionen Mal geklickt. In diesem Video sieht man seine übliche, sehr simple Art zu filmen, die sich über die letzten Jahre bewährt hat und auch bei seinen Ausflügen ins ehemalige sowjetische Hinterland nutzt. Mit einer sogenannten „Action-Camera“, die er stets in seiner Hand hält zeichnet der Brite sich und seine Umgebung aus der Weitwinkelperspektive auf; während er seine Erlebnisse nebenbei kommentiert, und nur kaum nachträglich aus dem „Off“ einspricht.
Von einigen anderen YouTubern und Journalisten wird sein Channel, der inzwischen über 1,5 Millionen Abonnenten zählt, als „etwas Neuartiges“ oder „etwas Spezielles“ beschrieben, denn in den sozialen Netzwerken gibt es unzählige Reise-Vlogger, doch „Bald“ sticht heraus. Viele andere Vlogger locken mit spektakulären Titeln und gestellten Action-Szenen. Durchaus begibt auch Rich sich in einigen seiner Videos an spektakuläre Orte wie beispielsweise in die Tschernobyl-Zone Weißrusslands. Auch wenn einige der Videos des Kanals etwas reißerische Titel tragen, verzichtet „Mr. Bald“ größtenteils auf eine spektakuläre Aufmachung. Statt mit einem Geigerzähler in der Hand und einem Fokus auf die vor Ort vorhandene Strahlung macht sich „Mr. Bald“ in einem Mietwagen auf den Weg in alte Dörfer wo er zufällig auf einen Tramper trifft. Sein neuer Fahrgast ist ein älterer, etwas gebrechlicher Herr, der sich als Kolja vorstellt. „Bald“ begleitet ihn zu seinem Zuhause, einem alten Holzhäuschen mitten im Wald nahe der belarussisch-russischen Grenze in dem er alleine, ohne Nachbarn und ohne Strom lebt. „Bald“ dokumentiert den Ort und die Situation ohne viel zu kommentieren. Dabei behandelt er Kolja freundschaftlich und mit Respekt. Er vermeidet es, sich – wie einige andere Reisevlogger, die sich als „fortschrittliche Westeuropäer“ sehen, die ähnlich wie koloniale Entdecker in exotische und abgelegene Gebiete der Welt reisen – über ihn zu stellen oder ihn gar für Klicks zur Schau zu stellen. Anders als bei vielen seiner Kolleginnen und Kollegen, kommt bei „bald and bankrupt“ kein bitterer, safari-artiger Beigeschmack auf. Auf seine eigene, offene, respektvolle und ehrlich interessierte Art und Weise schafft es „Bald“ aus alltäglichen und realen Situationen heraus informative und spannende Momente und Berichte zu generieren. In seinen Videos versucht er nicht ein festgelegtes Narrativ zu erzählen und drängt sich nicht in den Vordergrund. Der Inhalt der Videos ergibt sich spontan aus der Situation heraus, die er aufzeichnet. Die Protagonisten sind oftmals die Menschen, die „Bald“ filmt und dabei ihre Geschichten erzählen lässt.
„This is so Soviet!“ – „Balds“ Faszination für die Sowjetunion
„Bald“ hat ein Faible für sowjetische Bushaltestellen, sowjetische Restaurants, sowjetische Bibliotheken und sowieso alles, was durch den sowjetischen Kultur- und Industrieapparat produziert wurde. So sieht man ihn beispielsweise immer wieder sowjetische Mosaiks, etwa in Form von den großen Ortsschildern, die vor jeder größeren Stadt der UdSSR standen und auch heute größtenteils noch gepflegt und restauriert werden, stehen und die Kunst aus vergangenen Zeiten beobachten. In einem anderen Video fährt er auf einem alten belarussischen Rad der Marke „Aist“ von Dorf zu Dorf durch die ukrainische Provinz oder filmt voller Faszination alte, zerfallene Gebäude und Denkmäler aus der Sowjetzeit. Doch nostalgische Kommentare und Aussagen zu einem System, dass aufgrund seiner Unerreichbarkeit für viele Menschen aus dem Westen nach wie vor ein großes Mysterium darstellt, sind nicht das einzige was Rich zum Thema UdSSR einfällt. Immer wieder erinnert er – was generell für die westliche Berichterstattung und Darstellung Russlands und der restlichen ehemaligen Sowjetstaaten eine Besonderheit ist– an die herben Verluste der Sowjetunion des zweiten Weltkriegs und die dadurch entstandenen tiefen, emotionalen und auch demografischen Wunden, welche auch heute noch die Identität der Menschen in den betroffenen Ländern prägen. Darüber hinaus macht er auch auf die Gräueltaten aufmerksam, welche die Sowjets – allen voran Josef Stalin – an ihrer eigenen Bevölkerung verübt haben. Neben der Leichtigkeit die ein großer Teil Richs Videos versprüht, entstehen so auch hin und wieder die nüchternen und ernsteren Szenen seiner Videos.
Europa mal anders – Die unbekannten Ecken der russischen Provinz
„Bald“ ist offensichtlich Russland-Enthusiast. Er kennt die russische Kultur und spricht die russische Sprache fast fließend. Er interessiert sich für das Leben der Menschen abseits der großen, schönen Städte wie Moskau oder St. Petersburg und geht in die abgelegenen Ecken des Landes und die Provinzen, die man sonst als westlicher Tourist in der Regel nicht zu Gesicht bekommt. In den oft infrastrukturell sehr spärlich ausgestatteten und kulturell sehr traditionell geprägten Regionen scheint die Zeit manchmal etwas langsamer zu verlaufen. Dort sucht „bald and bankrupt“ beispielsweise nach alten Monumenten aus der Sowjetzeit, unterhält sich mit den Menschen vor Ort über ihre Lebensbedingungen, die Entwicklung ihres Ortes und begleitet sie bei alltäglichen Aktivitäten, wie beispielsweise dem Einkaufen oder einem kleinen Umtrunk mit Wodka, Wein oder Samagon (russischer Selbstgebrannter).
Was in „Balds“ Videos sehr deutlich wird, ist, dass die Dörfer Russlands ein Demografie-Problem haben. Wie auch in vielen anderen europäischen Ländern, zieht es die jungen Menschen in die größeren Städte. In Russland stellt der Zuzug junger Menschen nach St. Petersburg oder Moskau jedoch eine regelrechte Landflucht dar. Getrieben von den schlechten finanziellen und kulturellen Perspektiven in den Provinzen ihrer Heimat, zieht es junge Russinnen und Russen immer stärker in die zwei größten Metropolen des Landes. Zurück bleiben traditionsreiche und sehr originell gebliebene Dörfer mit verlassenen Tante-Emma-Läden, Lada-Wracks, umherstreunenden Hunden, Babuschkas mit spannenden Geschichten und die schier grenzenlose Natur. Doch neben dieser Bestandsaufnahme der russischen Provinz zeigt sich in Richs Videos auch die Vielfalt Russlands. Ob in der bergigen, muslimisch geprägtem Kaukasusrepublik Dagestan, der Republik Kalmückien am östlichsten Zipfel Europas oder in der Mari-El Repulik an der Wolga, bewegt sich „Mr. Bald“ durch die Dörfer, fragt die Menschen nach ihren kulturellen Praktiken und erklärt seinen Zuschauerinnen und Zuschauern die Geschichte der Völker im Kontext der Sowjetunion und Russlands.
„Bald“ erwähnt immer wieder, dass er sich – wie im Kaukasus bei den Inguschen – noch in Europa befindet. Damit eröffnet er neue Perspektiven auf Europa und erinnert uns daran, dass es auch noch östlich von Polen oder Ungarn eine Menge Leute gibt, die auch Europäer und Teil dieses Kontinents sind. Nicht vielen mochte es bekannt sein, dass es in Europa beispielsweise größere Volksgruppen wie die buddhistischen Kalmücken, die ursprünglich aus der heutigen Mongolei stammen, gibt. „Balds“ kleine Reiseberichte räumen auf mit einigen Stereotypen über Russinnen und Russen, wie beispielsweise über ihre angebliche emotionale Kälte, oder ihren ausschließlich slawischen Phänotyp. Sie beschönigen oder romantisieren jedoch nicht die Lebensumstände der Menschen. So machen sie zum Beispiel das vergleichsweise erhebliche Alkoholproblem in Russlands Bevölkerung und die sozioökonomischen Probleme unter denen viele Russinnen und Russen leiden sichtbar. In erster Linie aber, wecken seine Videos die Neugierde für Russland. Sie locken hinaus in das vielfältige Land, welches wir, durch die Videos von „bald and bankrupt“ in kleinen Stücken, wie bei einer Kostprobe serviert bekommen.