“Die Hauptstadt” Ost-Berlin in den Achtzigern Günter Steffen – Fotografien
Mach sichtbar, was vielleicht ohne dich nie wahrgenommen worden wäre
Robert Bresson
“Die Hauptstadt” Ost-Berlin in den Achtzigern Günter Steffen – Fotografien
“Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen” (Christa Wolf)
In Anlehnung an den Ausspruch des französischen Filmregisseurs Robert Bresson “Mach sichtbar, was vielleicht ohne dich nie wahrgenommen worden wäre”, verspürte der Berliner Fotograf Günter Steffen zwischen 1984 und 1989 Lust und Ehrgeiz, einen Zyklus über Ost-Berlins Mitte, in der er selbst lebte und arbeitete, zu schaffen. Meistens in den frühen Morgenstunden streifte er durch scheinbar unberührte und leere Straßen, Plätze, Hinterhöfe, Ruinen und an der monströsen Berliner Mauer entlang. Diese oft traurige, geheimnisvolle und geisterhaft wirkende Atmosphäre der Motive wollte er mit seiner Kleinbildkamera in Schwarz-Weiß festhalten. Sie waren für Günter Steffen Zeugnisse damaliger Lebensgefühle wie Hilflosigkeit, Zerrissenheit und Wut – eine Endzeitstimmung, auch ausgelöst durch den vielfachen Verlust von Freunden, die in den Westen ausreisten. Steffen hat als Zeitzeuge mit seinem erzählerischen Foto Essay die morbide und melancholisch anmutende Vergangenheit der Hauptstadt der DDR dokumentiert und so vor dem Vergessen bewahrt. Mit dem Foto-Text-Buch sowie einer nachfolgenden Ausstellung ab 5. November 2021 in der legendären Berliner Galerie “argus fotokunst” wird dieser Zyklus erstmals einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert und rückt mit ausgewählten Textfragmenten aus dem Roman Samjatins blasse Erinnerungen an scheinbar ferne Zeiten eindrücklich in unser Bewusstsein.
Dieser Untergangsstimmung in Steffens Fotografien stehen ausgewählte Textfragmente aus dem 1920 in Sowjetrussland geschriebenen dystopischen Roman “WIR” von Jewgenij Samjatin gegenüber, der schon wenige Jahre nach seiner Emigration 1937 in Paris starb. “WIR”, der politisch brisante Vorläufer weiterer berühmter dystopischer Romane, ist die alptraumartige Beschreibung eines totalitären und brutalen Überwachungsstaates. In ihm agieren nur noch Menschen mit Nummern, deren ferne Utopie eine erstarrte und seelenlose Gesellschaft ist. Zuerst 1924 von Exilanten im Ausland in tschechischer, englischer und französischer Übersetzung veröffentlicht, durfte der im gesamten Ostblock auf dem Index stehende Roman erstmalig 1988 unter Gorbatschow in der Sowjetunion erscheinen. Diese prophetischen Texte hat Sergej Gladkich exklusiv für das Foto-Text-Buch neu übersetzt. Die Fotografien wie auch der Roman “WIR” sind in Diktaturen mit willkürlich agierenden Herrschern, Parteien und deren Überwachungsapparaten entstanden. Auch wenn über 60 Jahre zwischen der Entstehung des Romans und den Fotografien liegen, lässt diese erstmalige Foto-Text-Kombination einen politischen Assoziationsraum entstehen, der das Vergangene im Heute spiegelt und ambivalente Visionen über unsere fragile Welt freisetzt. Die inspirative Buchgestaltung von Andreas Koch verstärkt dieses Wechselspiel zwischen Gestern und Heute und lädt zum nachdenklichen Co-Fabulieren ein.
Günter Steffen wurde 1941 in Berlin geboren. Nach seinem Physikstudium an der Humboldt-Universität Berlin schloss sich eine Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent an. 1977 begann er seine freiberufliche Arbeit als Fotograf mit Dokumentar- und Straßenfotografie. Dazu unternahm er ausgedehnte Reisen, u.a. in Regionen der ehemaligen Sowjetunion (Mittelasien, Kaukasus, Aralsee). Neben einigen Buchprojekten übernahm er auch vielfältige Aufträge im Bereich der Werbefotografie und realisierte immer wieder seine freien Projekte. Heute lebt der Fotograf in Templin (Uckermark).
Angelika und Markus Hartmann erhielten für ihre hervorragende verlegerische Arbeit mit »Hartmann Books« am 1. Juli 2021 den Spitzenpreis des Deutschen Verlagspreises von der Kulturstaatsministerin überreicht. Das Buch kann man beim Stuttgarter Verlag Hartmann Books ordern.
Am Freitag 5. November 18–20 Uhr finden in der Galerie „Argus Fotokunst“ die Vernissage und Buchvorstellung mit Günter Steffen statt. Ausstellungsdauer bis 18. Dezember 2021.Bitte beachten Sie die aktuellen Corona-Regeln.
Günter Jeschonnek ist Regisseur, Autor und Kulturmanager. Bis zu seiner Ausbürgerung 1987 lebte er mit seiner Familie in Ost-Berlin, in Prenzlauer Berg. Er ist Co-Autor von Theaterbüchern und von „Freiheit ist immer Freiheit… Die Andersdenkenden in der DDR“ (Ullstein, 1988; Ferdinand Kroh, Hrsg.) guenter.jeschonnek@online.de
Von Günter Jeschonnek