Film „Das Bolschoi“: Irgendwie Klischee, irgendwie auch nicht
Film „Das Bolschoi“: Irgendwie Klischee, irgendwie auch nicht
15. Januar 2018, von Kulturportal Russland Redaktion
Von der Straße zur Startänzerin: „Das Bolschoi“ erzählt die Geschichte von Julia Alschanskaja, die als Taschendiebin im Heim für Schwererziehbare lebt, und später den Aufstieg an der Ballettschule schafft. Reiner sozialromantischer Kitsch? Nicht unbedingt.
In der Russischen Filmwoche Berlin 2017 liefen die neuesten Premieren russischer Kinostudios. Eine davon war „das Bolschoi“, wo bereits der Trailer das vorurteilsbehaftete Gefühl gab, worum es gehen könnte: Eine arme, ehrliche, unterdrückte Heldin, die von allen Seiten unfair behandelt wird, Schicksalsschlägen ausgesetzt ist, und sich trotzdem durchkämpft. – Sozialromantik im Stile von „du kannst alles schaffen“, wie im britischen Klassiker „Slumdog Millionaire“.
Ganz so ist es dann doch nicht. Um eines vorwegzunehmen: Die Heldin ist keine reine Gewinnerin, die nur gute Seiten hat. Auch sie macht Fehler, und auch sie profitiert von unlauteren Methoden auf ihrem Weg zum Erfolg. Die Hintergrundkulisse ist dabei das postsowjetische, schlagartig verarmte und radikalkapitalistische Ellenbogen-Russland der 90er Jahre. Alschanskaja wächst in der Provinz auf – mit der üblichen Geschichte: Die Familie ist bitterarm, ihr Vater Alkoholiker, der irgendwann verstirbt, und eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern hinterlässt. Ihr ursprünglicher Traum berühmt zu werden, wird immer unrealistischer, nachdem sie aufgrund von Familienproblemen ins Heim für Schwererziehbare kommt. Sie schließt sich einer Bande von Trickbetrugs-Taschendieben an, wo sie Besucher von Marktplätzen mit Tanzeinlagen ablenkt, damit die restlichen Bandenmitglieder die Leute bestehlen können.
Schlussendlich ist es ein gescheiterter Star-Balletttänzer, der sie ertappt: Er selbst hat zwar keine Perspektive mehr, seit er Alkoholiker geworden ist, aber in ihr schien er Talent zu entdecken. So entschloss er sich, sie auf seine frühere Ballettschule unterzubringen, und ein gutes Wort einzulegen.
Hier erwartet Julia Alschanskaja eine Welt, welche die Kulisse des postsowjetischen Russlands weiter steigert: Der Mensch wird zur Ware, die Schülerinnen sind nur noch Objekte, bei denen es auf Aussehen und Leistung ankommt. Wer nicht spurt – fliegt sofort, und wer nicht „gut genug“ aussieht – sowieso. Es regiert Narzissmus, Selbstherrlichkeit, und die stete Angst, selbst „ausselektiert“ zu werden – nach sozialdarwinistischen Kriterien: Nur die scheinbar Starken überleben.
Der Kontrast der Ungleichheit zieht sich durch den ganzen Film, zum Beispiel in Form von Alschanskaja und ihrer Hauptkonkurrentin Karina, die aus sehr reichem Elternhaus stammt, und deren Mutter sich den Sieg ihrer Tochter erkaufen will. In diesem Verhältnis zeigt sich aber auch, dass es sich um keinen „David-gegen-Goliath“-Film handelt, in dem die Hauptfigur ein „Underdog“ ist, und sich gegen schier unbesiegbare Kräfte durchsetzen muss. Denn sie bekommt auch Hilfe – und das ebenfalls mittels dubioser Methoden, und zwar durch die Ballettlehrerin Galina Bilezkaja, die früher selbst berühmt war, und eine ihrer Ex-Affären, einen (im Film anonymen) Regierungsbeamten im Kreml um einen Gefallen bittet.
Mit anderen Worten: Zwischen der Macht von Korruption, Kontakten, dem „Recht des Stärkeren“, aber auch der Menschlichkeit und Fürsorge entscheidet sich das Schicksal aller Charaktere im Film. Hier gibt es nicht „die Guten“ und „die Bösen“, sondern unterschiedliche Facetten einer jeden Person in alle Richtungen. Aus dieser Warte heraus hat der Film Unterhaltungswert, wobei eine wirklich tiefsinnige psychologisch-philosophische Botschaft leider zu fehlen scheint, oder in zu vielen symbolischen Abstraktionen verläuft.
Gelungen ist dafür die Aufmachung des Films: Es ist keine klassische Chronologie, sondern erzählt die Kindheits- und Erwachsenengeschichte von Julia Alschanskaja in abwechselnden Abschnitten, die aufeinander überleiten. Und tatsächlich erzeugen diese ständigen, unangekündigten Zeitsprünge einen Spannungsbogen, der stetig Fragen zur Geschichte aufwirft, und sie in der folgenden Sequenz beantwortet. Dieses Stilmittel gelingt nicht jedem Film, und ist aus künstlerischer Perspektive hochwertig. Damit wird die Handlung durch die bloße „Verpackung“ des Films bereits geheimnisvoll. Manchmal wird der Bogen aber etwas überspannt: So gibt es einen abrupten Sprung inmitten des Films, der zeitlich-chronologisch – einfach so – vor den Filmanfang überhaupt springt. Da dauert es eine Weile, den Zusammenhang auf Anhieb einzuordnen.