Hannes Farlock über seinen Dokumentarfilm „Ja, Andrei Iwanowitsch“ – Ein Interview
Hannes Farlock über seinen Dokumentarfilm „Ja, Andrei Iwanowitsch“ – Ein Interview
In dem Film „Ja, Andrei Iwanowitsch“ geht es um einen ganz gewöhnlichen Menschen, sein Name ist Andrei. Es geht einer Arbeit nach, er reist gerne, hilft seinen Nachbarn, pflegt ein aktives Liebesleben. Aber etwas unterscheidet ihn von allen anderen.
Bei näherem Hinsehen scheint es, als ob er das Rezept für ein ewiges und erfülltes Leben gefunden hat, obwohl das Schicksal ihn im Laufe seines Lebens sehr hart geprüft hat. Im Alter von 15 Jahren wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Er überlebte die grausame Zeit und gab auch dann nicht auf, als in der Zeit nach dem Krieg fast alle seine Familienangehörigen starben. Der Film kontrastiert die gewitzte Art und Weise wie er seinen Alltag meistert mit seiner tragischen Lebensgeschichte. Mittlerweile ist Andrei 94 Jahre alt, komplett auf sich allein gestellt aber vollkommen glücklich.
Interview geführt und verschriftlicht von Julia Hofmann und Emil Herrmann
Julia Hofmann: Lieber Hannes vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast um mit uns über Deinen Film „Ja, Andrej Iwanowitsch“ und seinen gleichnamigen Protagonisten zu sprechen.
Du hast Andrej Iwanowitsch ein Jahr lang begleitet, eine Freundschaft aufgebaut, mit ihm gemeinsam Honig auf der Datscha geerntet, seine Nachbarn kennengelernt und warst sogar mit ihm in Buchenwald. Was hat dich dazu bewegt Andrej so lange zu begleiten und einen Film über ihn zu drehen?
Hannes Farlock: Ich habe damals im Alter von 19 Jahren in Polen in einem Krakauer Sterbehospiz meinen Zivildienst geleistet. Dort haben wir uns um Überlebende von Auschwitz gekümmert. Eine Hälfte von uns Zivis war dort sehr belastet und hat schon früh wieder aufgehört. Die andere Hälfte, zu der auch ich gehörte, war total begeistert vom Land und der Region Osteuropa an sich. So habe ich mich danach weiterhin über die Ukraine, Belarus und das Baltikum immer mehr Osteuropa angenähert und lebe nun schon seit vier Jahren in Russland.
Ich fand es schon immer interessant mich mit älteren Menschen auszutauschen, auch freundschaftliche Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Als ich mich irgendwann entschied bei einer dänischen IT-Firma in Belarus zu arbeiten, wollte ich mich neben dem Geschäftlichen auch sozial engagieren und so stieß ich auf die wunderbare Institution „Geschichtswerkstatt Minsk“.
Als ich mit 19 in Polen war mit hieß es schon „die letzten Überlebenden der Konzentrationslager sind bald nicht mehr da“. Nun kam ich 18 Jahre später in die Geschichtswerkstatt und lernte mit ihnen Deutsch. Dort lernte ich auch Andrej kennen.
Über das belarussische Fernsehen, für das ich immer wieder Beiträge über Land und Leute produzierte, nahm ich Kontakt zu Kameramann Dzianis Sakalouski auf. Wir waren beide begeistert von Andreis Persönlichkeit, wollten Sie festhalten und mit anderen Menschen teilen.
Julia Hofmann: Nun hast Du mit Andrej auch das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald besucht. War es für Dich schwierig das Thema KZ mit Andrei zu behandeln? Oder half Dir deine frühere Arbeit und die Auseinandersetzung mit der Thematik dabei?
Hannes Farlock: Ich wollte Andrei mit dem Thema nicht quälen, hab ihn zu nichts gedrängt, da es ja durchaus belastend sein kann darüber zu reden. Aber ich merkte auch, dass beispielsweise Gespräche mit Andrei über Sex viel intimer waren, als mit ihm über die Erfahrungen im Konzentrationslager zu reden. Denn davon erzählt er ständig, über intime Emotionen eher selten. Aber ich denke insgesamt ist es sehr wichtig für ihn, eine Plattform zu haben auf der er über diese Erlebnisse sprechen kann. Deswegen ist er auch den Deutschen sehr dankbar, was erst einmal paradox wirkt. Doch das Engagement – zumindest der staatlichen Institutionen Deutschlands – für die Überlebenden ist schon bemerkenswert.
Für mich war es also nicht schwer darüber zu reden. Was für mich jedoch schwer zu ertragen ist, ist das neue Erstarken nationalistischer Strömungen in Deutschland. Das ist für mich, als jemand, der in einer Generation aufgewachsen ist, die so stark von der europäischen Integration profitiert hat und das Gefühl hatte alles wächst jetzt immer weiter zusammen, eine große Enttäuschung. Deswegen ist es mir auch wichtig, dass ich mit Andrei beispielsweise in Sachsen in die Schulen gehe und dort einfach die Fakten zu der NS-Vergangenheit, in Form der Person von Andrei, vorstellen kann. Er ist jemand, den die Schülerinnen und Schüler „anfassen“ und fragen können. Ich halte gewisse Strömungen in der Gesellschaft für brandgefährlich. Deswegen ist es für mich auch eine sehr emotionale Sache, mit Andrei diese Erinnerungsarbeit zu leisten und dagegen anzukämpfen.
Ich denke auch pädagogisch ist es vielleicht nicht der richtige Weg immer den Hammer auf den Tisch zu schlagen, die Grausamkeit der NS-Zeit zu zeigen und auf Abschreckung zu setzen, wie man das ja aus der Schule kennt. Mit Andrei ist da jemand, der der ganzen Thematik ein menschliches Antlitz verleiht und die positive Message vermitteln kann: „Ich lebe noch, und ich lebe deshalb noch, weil die Politik sich in der Nachkriegszeit zum Positiven verändert hat. Deswegen lasst uns in dieser internationalen Gemeinschaft so weitermachen und weiter zusammenwachsen.“
Julia Hofmann: Also siehst Du Schwierigkeiten in der deutschen Erinnerungskultur?
Hannes Farlock: Ich denke wir haben die Thematik intellektuell gut verstanden und gut aufgearbeitet. Aber ich glaube wir müssen dorthin gehen, wo die Menschen keinen Zugang haben oder ihn nicht haben wollen. Da gehen Andrei und ich auch hin. Er ist körperlich in einem Zustand in dem er kontroverse Diskussionen und dergleichen gut aushalten kann.
Julia Hofmann: Dieses Jahr ist das 75. Jubiläum des Endes des Zweiten Weltkriegs. Ihr wärt eigentlich gemeinsam nach Buchenwald gefahren, leider ist das nun aufgrund von Corona nicht möglich. Bewegt das Andrei in einer gewissen Weise?
Hannes Farlock: Wie gesagt, er ist immer sehr pragmatisch. Er ist zwar in Isolation, aber er ist absoluter Selbstversorger und hat gerade jetzt im Frühling zuhause immer gut zu tun. Natürlich ist es für ihn sehr wichtig regelmäßig Buchenwald zu besuchen. Auf der anderen Seite würde er sich – wenn wir jetzt dort wären – wahrscheinlich darüber Sorgen machen, dass ihm seine Zwiebeln vertrocknen, weil er durch die Reise zehn Tage lang nicht daheim sein und sie gießen kann.
Julia Hofmann: Im Film wurde deutlich, dass Andrei durchweg frohen Mutes ist. Konntest Du während der Dreharbeiten irgendwie herausfinden, was das Geheimnis hinter Andrejs Positivität ist oder bleibt dies ein Phänomen für sich?
Hannes Farlock: Leider konnten wir während der Dreharbeiten, auch nach großem Rätseln, nie ganz dahinterkommen, wie Andrei es schafft immer so positiv zu sein. Sicherlich ist sehr viel Strategie dabei, dazu kommt, dass er immer noch sehr viel arbeitet. Außerdem hat er sich seine Neugier bewahrt. Dafür bewundere ich ihn unglaublich. Ein Beispiel: Ich war mit Andrej letzten Sommer in Berlin in einem asiatischen Restaurant essen. Die Speisen auf der Karte waren für Andrei zum Großteil total unbekannt. Aber er hat sich dennoch total dafür interessiert und sich von mir mit einer akribischen Hingabe beibringen lassen, wie man mit Stäbchen ist – und das obwohl er an Parkinson leidet. Andrei geht an jeden Tag mit Neugier und dem Ansatz, dass er etwas lernen und Menschen helfen kann, heran.
Ein anderer Punkt ist, dass er sehr diszipliniert ist und sich gut ernährt. Er kann Dir ganze Vorträge über gesunde Ernährung halten. Doch gleichzeitig ist er nicht dogmatisch und kann auch mal ein Gläschen Wodka trinken. Ich denke da gibt es eine Mischung aus Disziplin und Entspanntheit.
Doch ein großer Teil des glücklichen, langen Lebens ist meiner Meinung nach Kopfsache. Ich denke, dass eine gewisse Phlegmatik nötig ist um sich mit allem Erlebten zu arrangieren. Letztes Jahr hat Andrei fünf, ihm nahestehende Personen verloren. Ohne die Fähigkeit, dass nicht zu nah an sich heranzulassen, hält man das in dem Alter nicht mehr aus. Auch wenn das aus unserer Sicht vielleicht etwas kaltherzig wirkt, ist das vermutlich eine sehr erfolgreiche Überlebensstrategie.
Julia Hofmann: Hast Du davon etwas für Dich selbst mitnehmen können?
Hannes Farlock: Das kann ich nicht genau sagen, ich würde es mir auf jeden Fall wünschen. Man muss sich aber auch bewusstmachen, dass Andrei nicht nur so lange so gut überlebt hat, weil er so ein toller Kerl ist. Viel – das sagt er auch selbst – hat natürlich auch mit Zufall zu tun. Er hat großes Glück gehabt, dass er bis jetzt so gut leben konnte. Das ist ihm durchaus bewusst und allein aus diesem Bewusstsein heraus entsteht eine tiefe Dankbarkeit und eine innerliche Verpflichtung, das Leben, dass ihm sozusagen geschenkt wurde auch gut zu gestalten und es sinnvoll und glücklich auszufüllen.
Julia Hofmann: Vielen Dank für das Gespräch.
Der Film „Ja, Andrei Iwanowitsch“ ist in der Mediathek des MDR abrufbar.