Die Kiewer Rus in „Vikings“: Fiktion oder Historie?
Die Kiewer Rus in „Vikings“: Fiktion oder Historie?
von Leah Hemptenmacher
Der kanadische Sender HISTORY produziert seit einigen Jahren die Fernseh-Serie „Vikings“. Sie spielt im frühen Mittelalter und handelt von den Entdeckungsfahrten und Kriegen der berüchtigten Wikingerstämme. Die Story basiert auf historischen Tatsachen, ist aber gespickt mit fiktionalen Elementen. In der aktuellen und letzten Staffel führt die Handlung in neues Terrain und unbekannte Gefilde: die der Rus.
Wir wollen einen genaueren Blick auf diese bedeutende Epoche werfen, den exzentrischen Charakter Oleg, das eindrucksvolle Reich der Rus aus der Fernsehserie betrachten und sie ihren historischen Vorbildern gegenüberstellen. Dabei werden wir feststellen, dass die der Historie entnommenen Charaktere einiges an Neugestaltung erfahren haben und an einigen Stellen die historische Wahrheit einer guten Story weichen musste.
Zum Auftakt der Serie zeigt sich folgendes Szenario: Der Wikinger Ivar befindet sich im Exil. Nachdem er einige Zeit durch unbekannte Länder gestreift ist, landet er im Reich der Rus und gerät in die Fänge des heimischen Prinzen Oleg. Auch wenn sie einander zunächst feindlich gesinnt sind, finden sich schnell Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Was daran entspricht den geschichtlichen Tatsachen? Wie hängen die beiden Charaktere mit der Entstehung des modernen Russlands zusammen?
Der Begriff der Kiewer Rus wurde in der Moderne geprägt und beschreibt den „Altrussischen Staat“, der seine Blütezeit vom 9. bis ins 11. Jahrhundert nach Christus hatte. Auf der Suche nach Handelsrouten ins Byzantinische Reich begannen Menschen aus den skandinavischen Gebieten schon früh damit, osteuropäisches Land zu entdecken, die Flüsse zu befahren und sich dort niederzulassen. Bekannt waren sie unter dem Namen „Waräger“. Sie stellten später die neuen Herrscher des Gebietes dar und bildeten fortan die „Rus“. Mit der Zeit übertrug sich diese Bezeichnung auch auf die dort ansässige Bevölkerung. Zur Herkunft dieses Wortes gibt es unterschiedliche Theorien – zum Beispiel, dass es sich vom Wort für „Ruderer“ aus der Sprache der schwedischen Nordmänner abgeleitet hat. Der Mythos besagt, dass die slawischen Völker in Eigenregie weder Recht noch Ordnung durchsetzen konnten und sich nach andauernden Fehden schließlich an die Waräger wandten, damit diese sich der Regierungsaufgabe annahmen. So geschah es, dass ein Skandinavier namens Rurik, mutmaßlich edlen Blutes, mit zwei seiner Brüder in das Land der Slawen kam und die drei dort zu den ersten Waräger-Fürsten wurden.
Rurik herrschte in Nowgorod ab dem Jahre 862 n. Chr. und begründete damit das Fürstengeschlecht der Rurikiden, das noch bis ins 17. Jahrhundert Bestand hatte.
Ziehen wir ein erstes Zwischenfazit: Der Serienprinz Oleg ist zum Zeitpunkt seines ersten Auftretens auf dem Bildschirm Machthaber im Reich der Rus. Die Herrschaft muss er sich allerdings teilen – seine Brüder Askold und Dir regieren ebenfalls. Schon bald enthüllt er vor Ivar seine Wikinger-Abstammung, seinen skandinavischen Ursprung. Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden tut sich doch ein großer Unterschied auf – Oleg der Serienheld hängt bereits dem Christentum an und hat den nordischen Göttern aus Ivars Sippe entsagt. Er gibt sich den Beinamen „der Prophet“ – lange bleibt offen ob er tatsächlich prophetische Fähigkeiten besitzt. Er hat große Ambitionen und sieht in seinem Thronerben und Neffen Igor die Chance, seinen Brüdern skrupellos die Macht abzunehmen und sich die alleinige Herrschaft über das ganze Rus-Imperium zu sichern. Dabei schreckt er vor nichts zurück, vergiftet seinen Bruder und nimmt seinen anderen Bruder Dir gefangen.
Der historische Oleg hat zunächst nicht geherrscht, sondern war wahrscheinlich ein Feldherr unter Rurik und ebenso von warägischer Herkunft. Welcher Verwandtschaftsgrad zwischen ihnen bestand ist ungeklärt. Auch ein Christ war er noch nicht – erst unter Wladimir dem Großen im Jahre 988 traten die Rus zum orthodoxen Glauben über. Oleg fungierte nach Ruriks Tod als Regent für dessen Sohn Igor und eroberte im Jahre 882 Kiew, herrschte dort und machte Kiew zur Hauptstadt des Reiches. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde das Handelszentrum noch von Askold und Dir als Fürsten von Kiew kontrolliert, welche unabhängig vom Rurik-Clan, aber ebenso als warägische Herrscher regierten. Dafür, dass die beiden wie in der Verfilmung wirklich Olegs Brüder waren, gibt es jedoch keine historischen Hinweise. Nachdem nun weite Teile der Handelsrouten zwischen Skandinavien und dem Schwarzen Meer vereinigt in den Händen der Rus lagen, erfuhr Kiew großes Wachstum und entwickelte sich rasant. Damit gilt Oleg als maßgeblicher Begründer der Kiewer Rus. Über das Naturell Olegs lässt sich nur spekulieren, jedoch waren brutale Vorgehensweisen in dieser Epoche wohl eher der Standard als die Ausnahme.
Der Seriencharakter Prinz Oleg scheint neben der historischen Figur Oleg auch Elemente von Rurik, dem ersten Waräger-Fürsten zu verkörpern. Rurik kommt allerdings selbst an keiner Stelle der Serie als eigener Charakter vor. Der historische Rurik kam nach Nowgorod und herrschte mit zwei seiner Brüder über das Land, ebenso wie Oleg aus der Serie. In der Verfilmung weicht die Übernahme des christlichen Glaubens von der Realität ab und geschieht hier viel früher. Denn Christen waren die ersten Rurikiden laut Geschichtsschreibung noch nicht. Nowgorod und Kiew sind hingegen richtigerweise die zentralen Orte des Geschehens – in der Serie und in der Historie. Anders als in der Serie dargestellt war Igor, der später bis zum Jahre 945 die Herrschaft der Kiewer Rus übernahm, nicht der Sohn von Olegs vermeintlichem Bruder Dir, sondern von Rurik.
Den Titel „der Prophet“ besaß Oleg aber wirklich. Wie in der fiktionalen Aufarbeitung, soll er einer Legende nach seine eigene Vergiftung durch Wein vorhergesehen und sich daraufhin geweigert haben, ihn zu trinken.
Der Serienheld Ivar entspringt der nordischen Sagenliteratur. Ivar hat vermutlich im 8. Jahrhundert nach Christus gelebt und vor allem im angelsächsischen Raum Spuren hinterlassen. Das Auftauchen seines Namens in diversen Chroniken kann als Hinweis auf seine Historizität dienen, diese auch zu belegen ist dagegen schwierig. Doch nach dem, was man aus den wenigen Aufzeichnungen über ihn weiß, ist er nicht in den Gebieten der Rus unterwegs gewesen und auch nie in Kontakt mit den Warägern gekommen.
Was geschieht noch in der Serie? Im Verlauf des Kennenlernens der beiden Serienfiguren spricht der Prinz Oleg über seine Ambitionen, einen Feldzug gegen das Byzantinische Reich zu führen und Konstantinopel zu erobern. Ivars Bestrebungen richten sich eher nach Norden in seine Heimat um Vergeltung für seinen Machtverlust zu üben. Auch der Serienprinz Oleg zeigt sich davon inspiriert und offenbart, dass er eines Tages sein Herkunftsland Skandinavien wiedererobern möchte. Die Kommunikation zwischen den beiden Serienfiguren verläuft problemlos, da Oleg durch seine Wikingerherkunft zweisprachig ist. Dialoge mit anderen der Rus führt er jedoch in einer slawischen Sprache, die dem modernen Russisch sehr ähnlich klingt.
Zurück zur Geschichtsschreibung: Im Jahre 907 n. Chr. führte Oleg von Kiew wirklich einen Angriff auf Konstantinopel durch. Der Frieden zwischen beiden Seiten wurde durch einen Handelsvertrag hergestellt, von dem vor allem die Rus profitierten. Die langen, engen Kontakte mit Byzanz werden als ursächlich für die Christianisierung des Reiches angesehen. Die Orthodoxie nach byzantinischem Vorbild hatte großen Einfluss auf die kulturelle Sphäre des Kiewer Reiches und ist heute besonders in der Architektur und Kunst zu finden. Sehr anschaulich ist das in der Wappengeschichte zu erkennen – das Zarenreich hat von Byzanz das Symbol des Doppeladlers übernommen. Heute ist das zweiköpfige Tier auch auf dem Wappen der Russischen Föderation abgebildet. Die Bewohner der Kiewer Rus sprachen über mehrere Jahrhunderte Altostslawisch, das sich später zu modernem Russisch, Weißrussisch und Ukrainisch entwickelte. Neben starker Verwandtschaft in Klang und Vokabular teilt sich die Sprache der Kiewer Rus mit den modernen Ostslawischen Sprachen auch die kyrillische Schrift. Auch diese ist sichtbar von den Buchstaben des byzantinischen Griechisch beeinflusst worden.
Feldzüge nach Skandinavien gab es dagegen zur Zeit der Rus nicht. Im Gegenteil – die Rus waren stets bemüht gute diplomatische Beziehungen zu den europäischen Mächten zu führen und sie u.a. durch Heirat in den Adelshäusern zu festigen.
Das Reich der Kiewer Rus war kein Land im Sinne moderner Staatlichkeit. Vielmehr war es aus zahlreichen kleinen Fürstentümern zusammengesetzt und sein Volk aus verschiedenen Ethnien gebildet. Die Hauptstadt Kiew war dabei stets das politische und kulturelle Zentrum und wurde zu Hochzeiten
von geschätzt 50.000 Menschen bewohnt. Aus dem großen Territorium der Kiewer Rus gingen später drei Staaten hervor: Weißrussland, Russland und die Ukraine. Zweifelsohne wurde mit der Gründung der Rurikiden-Dynastie der Grundstein für das Zarentum Russlands gelegt.
In Vikings‘ Kiewer Rus finden wir zahlreiche historische Figuren, Schauplätze und Ereignisse wieder. Zwecks Dramaturgie sind sie jedoch häufig abgeändert oder vertauscht und uminterpretiert – dem Zuschauer sollte klar sein, dass hier in erster Linie der Unterhaltungszweck verfolgt wird und keine geschichtliche Bildung.
Jedoch muss man an dieser Stelle auch sagen: Geschichtsschreibung ist in solchen Epochen oft lückenhaft und basiert auf sehr wenigen Aufzeichnungen, die kaum einen Unterscheid zwischen Legende und Historie erkennen lassen.
Gerade diese Lückenhaftigkeit macht es auch weniger greifbar und daher ist eine anschauliche Verarbeitung in Medien, die die entsprechenden Lücken mit gewissen Portionen Fiktion füllt und ihnen Leben gibt, gut geeignet, um den Zuschauern diese Epoche der Geschichte – ohne den Anspruch auf Wahrheit – näherzubringen.
Die historische Drama-Serie „Vikings“ ist mittlerweile bei den meisten gängigen Streaming-Anbietern in vielen Ländern zu sehen. Zurzeit läuft die Serie in der letzten Staffel und wird damit voraussichtlich zu Beginn des nächsten Jahres enden.
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