«Kitchen Talks» in Berlin – Prof. Susanne Strätling im Gespräch
«Kitchen Talks» in Berlin – Prof. Susanne Strätling im Gespräch
01.12.2019, von Alexandra Majorov
Die sogenannten «Kitchen Talks» in Berlin sind das, was der Name schon sagt: Gespräche in Küchen – ersatzweise Wohnzimmern, Ateliers, Kulturzentren – mit Wein und kleinen Leckereien. Kein kahler Seminarraum einer Universität soll Treffpunkt zwischen Künstler/in und Studierenden sein, sondern die eigenen vier Wände der jeweiligen Kunstschaffenden.
Der Blog zu den Gesprächen mit den osteuropäischen Künstler/innen, die (größtenteils) in Berlin leben und ausstellen, ist ein Projekt der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam unter der Leitung von Prof. Georg Witte sowie Prof. Susanne Strätling, die glücklicherweise Zeit für ein Interview mit Kulturportal Russland gefunden hat.
1. Bei den «Kitchen Talks»- Gesprächen war es wichtig, dass sie nicht im Seminarraum stattfanden – bis auf ein einziges Mal hat das ja geklappt – egal wo, nur nicht in der Universität.
Was war der Gedanke hinter dieser Maßnahme?
Die Idee des Raums war für die Konzeption des Seminars zentral. Georg Witte und ich haben zuvor immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Einladungen von Künstler/innen in Seminare an der Universität häufig unter einer sterilen akademischen Atmosphäre leiden. Irgendwie sprang da oft nicht der Funke über, die Begegnungen liefen ins Leere. Und das ist wahrscheinlich auch nicht überraschend, denn Räume oder räumliche Kontexte, räumliche Rahmenbedingungen sind ganz entscheidend für Schaffensprozesse. Der Raum ist nicht neutral, er kann nicht beliebig gefüllt werden, sondern hat einen symbolischen und atmosphärischen Wert. Man spricht ja nicht umsonst vom genius loci. Bei den bildenden Künstler/innen, die wir besucht haben, hatten wir zudem die Hoffnung, die Kunst anders wahrzunehmen, wenn wir den Arbeitsprozess beobachten oder unfertige neben fertigen Bildern sehen können. So entstand die Idee, den Transfer umgekehrt verlaufen zu lassen: Nicht die Akteure der zeitgenössischen Kultur in die Sphäre der Universität zu bringen, sondern mit der Universität in die Sphäre der Kultur hineinzugehen. In diesem Sinne hat unser Seminar auch eine Art Feldforschung betrieben. Wir wollten den universitären Seminarraum, der auch ein gewisser Schutzraum ist, verlassen und die Studierenden ins Feld der aktuellen Kulturlandschaft schicken. Dadurch hat alles ein anderes Format bekommen: Anstelle der üblichen Seminarpraxis, die so ungefähr nach der Formel «90 Minuten und 1 Text» funktioniert, haben wir eine Spurensuche durch das osteuropäische Berlin unternommen – mit all den Unbequemlichkeiten, die dazu gehören: Jede Woche haben wir uns woanders getroffen, waren oft bis spät in die Nacht unterwegs, mussten für unsere Vorbesprechungen improvisieren, haben an zugigen Ecken Texte diskutiert oder sind mangels anderer Unterschlüpfe in lauten Cafés und Kneipen gelandet – das manchmal war auch mühsam.
2. Es gibt ja wahrscheinlich (noch?) keine Datendank, die wirklich jede/n Künstler/in in Berlin zusammenträgt. In den Gesprächen sind zudem mal größere Namen mal weniger bekannte Personen vertreten. Wie wurden die Künstler/innen also gefunden – und nachdem sie gefunden worden sind, wie wurden sie ausgewählt? Es war ja bestimmt keine Wahl nach dem Motto «Wir nehmen jede/n, den/die wir bekommen können!»
Das Finden ist eigentlich nicht so schwer, wenn man die osteuropäisch geprägte Kunstszene in Berlin halbwegs aufmerksam verfolgt. Und es gab auch einige Künstler/innen, mit denen wir selbst schon zuvor in Kontakt waren. Sehr viel schwieriger war es allerdings, aus den vielen Namen, die sich anboten, eine Auswahl zu treffen. Uns war als Literaturwissenschaftlern von vornherein wichtig, verschiedene Künste und Medien zu versammeln, d.h. nicht nur Autor/innen zu besuchen, sondern auch in die Bildende Kunst, in den Film und in die Musik hineinzugehen. Darin lag natürlich auch eine gewissen Herausforderung. Durch die Offenheit unserer Gesprächspartner/innen ist das aber an keiner Stelle zum Problem geworden.
3. Nachdem die Entscheidung für den/die Künstler/in gefallen ist – es wurde Kontakt aufgenommen, aber erst beim «Kitchen Talk»- Gespräch selbst traf man die Person hinter den Telefonaten oder Mails persönlich. Gab es Persönlichkeiten, die Sie besonders überrascht oder fasziniert haben? Oder haben Sie neue Entdeckungen – Charakterzüge, andere Eigenschaften z.B. – an Ihnen bereits bekannten Künstler/innen entdeckt?
Wie gesagt: Nicht wenige der Kitchen-Talk-Künstler/innen kannten wir ja schon vorher. Und mit allen haben wir zuvor ausführlich besprochen, anhand welcher Materialien sich die Gruppe vorbereiten kann, was Gesprächsgegenstand sein könnte, wie und wo das Gespräch verlaufen kann. Auch die Künstler/innen wollten sich ja oft vorbereiten. Aber natürlich waren die Begegnungen voller Überraschungen und Unabwägbarkeiten – ein Maler wollte seine Bilder nicht zeigen – und führte uns dann doch in sein Schlafzimmer, wo einige Bilder hingen, die ihm besonders wichtig waren; ein anderer Künstler erklärte gleich zu Beginn, dass das Thema, das wir hauptsächlich mit ihm besprechen wollten, für ihn abgeschlossen sei – und sprach dann doch sehr ausführlich darüber, ein dritter setzte sich zwischenzeitlich in ein Nebenzimmer und ließ seine Frau sprechen – um ihr dann immer wieder ins Wort zu fallen usw.
Vor jedem Kitchen Talk haben wir in der Seminargruppe ein Vorbereitungsgespräch geführt, Fragen und mögliche Aspekte für das Gespräch gesammelt, Gesprächsverläufe antizipiert. Für jeden Kitchen Talk haben dann jeweils zwei Studierende die Gesprächsleitung übernommend. Auch für sie war das eine spannende und ungewohnte Situation. Zwar war allen von vornherein bewusst, dass ein Gespräch eine unabgesicherte Form ist – aber in der Praxis erfordert es oft sehr viel Flexibilität und Spontaneität, um damit umzugehen. Gespräche nehmen unerwartete Wendungen. Wenn es anders wäre – oder wenn wir es anders hätten haben wollen, hätten wir uns auch nicht in dieses Abenteuer hineinbegeben müssen, sondern einfach das bewährte Seminarformat wählen können.
4. Das Projekt fand nun in zwei Semestern statt. Was sind die Pläne für das kommende Semester? Was versprechen Sie sich allgemein von diesem Projekt und für seine Zukunft?
Nächstes Jahr gibt es die «Kitchen Talks»-Gespräche in dieser Seminarform selbst nicht mehr – obwohl man sie sicher fortsetzen könnte, und ich will auch nicht ausschließen, dass eine Fortsetzung kommt. Aber aktuell betreuen Georg Witte und ich zunächst die zwei Folgeprojekte, die aus dem Seminar hervorgegangenen sind.
Zum einen übersetzt aktuell eine Gruppe Studierender einen Band mit Kalendergeschichten von Lew Rubinstein, den wir im letzten November getroffen haben. Für die Begegnung mit ihm hatten wir bereits einige Texte übersetzt. Das hat allen so viel Spaß gemacht, dass wir beschlossen haben, in einer kleineren Gruppe das gesamte Buch zu übersetzen. Die deutsche Version dieses Buchs, «Celyj God», wird im Verlag Matthes&Seitz Berlin erscheinen.
Zum anderen wird aus dem Videomaterial, welches wir während der «Kitchen Talks» gesammelt haben, einen Film zusammengeschnitten. Daran arbeitet aktuell eine zweite Gruppe, die sich aus dem Seminar heraus gebildet hat.
5. Nicht jeder der Studierenden hat ja ein Studium im Bereich des Journalismus gemacht. Trotzdem konnte jeder, der ehrliches Interesse bekundet hat, teilnehmen und hautnah bei den verschiedenen osteuropäischen Künstler/innen dabei sein.
Welche Eigenschaften sollten die Studierenden haben, wenn sie am Projekt teilnehmen?
Wir haben von den Teilnehmer/innen keine spezifischen journalistischen Kompetenzen verlangt. Darum ging es auch nicht. Was wir erwartet und verlangt haben, war: eine klar artikulierte Motivation, ein klar formulierbares Interesse. Die Studierenden müssen vorher nicht im Bereich Journalismus gearbeitet haben, sie sollten aber ihr Interesse in Worte fassen können. Warum? Weil es im Kern darum ging, dass die Studierenden mit den Künstler/innen sprechen. Das Seminarformat war auf einen Dialog angewiesen, das heißt, sie benötigen eben diese Dialogfähigkeit, um ihre Position im Gespräch zu formulieren und einem Gesprächspartner anzubieten. Ich denke, für alle Studierenden ist eine der wichtigsten Erfahrungen des Seminars gewesen, dass es eine Kunst des Dialogs gibt. Und das auch in anspruchsvollen Situationen. Denn über Kunst zu sprechen ist das eine. Ein Statement gegenüber den Künstler/innen selbst abzugeben, aber natürlich etwas ganz anderes.
6. Wie haben die Studierenden auf das Projekt reagiert, was war ihr Feedback? Was haben sie für ihren beruflichen/wissenschaftlichen Werdegang mitgenommen?
Vielleicht sollten Sie für eine richtige Antwort die Teilnehmer/innen selbst fragen. Ich kann hier nur sehr begrenzt für sie sprechen, nur im Rahmen dessen, was am Ende des Seminars als Feedback formuliert wurde. Was viele, glaube ich, an positiver Erfahrung mitgenommen haben, ist ein erhöhtes Bewusstsein dafür, dass sie inmitten eines vitalen osteuropäischen Raumes der Kunst leben. Die starke osteuropäische Szene Berlins wurde von allen neu erfahren, künstlerisch erfahren und analytisch erfahren. Und diese Erfahrung hat natürlich auch mit der Form des Lernens zu tun. Für viele war es das erste Mal, dass sie in einem so praxisorientierten Seminar nicht nur mit den Dokumenten der Kultur, die sie aus Bibliotheken bekommen, zu tun hatten, sondern sich als Zeitgenossen empfunden haben. Das Seminar hat sie sozusagen auf andere, sehr unmittelbare Weise mit den Gegenständen ihres Fachs in Berührung gebracht. Ganz egal, ob sie später im Kulturbetrieb arbeiten werden oder nicht: Die Teilnehmer/innen haben Fühlung aufgenommen mit der aktuellen osteuropäisch geprägten Kunst- und Kulturszene.
Den Blog mit allen Künstler/innen-Gesprächen findet ihr hier: kitchentalksberlin