Michail Kalaschnikow und seine Kalaschnikows
Michail Kalaschnikow und seine Kalaschnikows
Über den Menschen Kalaschnikow und seine berühmt-berüchtigte Erfindung lesen Sie in unserem Artikel.
06.11.2019, von Sergei Zubeerov
Patriotische Erziehung
Zum 100. Geburtstag des Waffenkonstrukteurs Michail Kalaschnikow am 10. November gab das russische Bildungsministerium die Anweisung „den im Ausland bekanntesten Russen“ an diesem Tag im Schulunterricht zu ehren. Diese Maßnahme soll die patriotische Erziehung der Jugend fördern.
Die unabhängigen russischen Kommentatoren reagierten meist empört. So sieht der Journalist der Zeitung Wedomosti Pawel Aptekar darin die Bestätigung, dass die patriotische Erziehung in der Schule zunehmend wichtiger als die Bildung an sich wird.
Der Oppositionspolitiker Dmitri Gudkow äußert zugespitzt sein Unbehagen gegenüber dem der Erfindung Kalaschnikows anhaftenden Image: „Unsere offizielle Identität und Seelentiefe besteht also darin, möglichst viele Leute umzubringen“.
Vom Bildungsministerium wird vor allem vorgeschlagen, über die Vita, den beruflichen Werdegang und das literarische Schaffen Kalaschnikows zu berichten. Empfohlen wird aber auch der Besuch eines nächstgelegenen militärhistorischen Museums oder von Ausstellungen in militärischen Einberufungsbüros und – was für die größte Empörung sorgte – eine AK-47 auf Zeit auseinander- und zusammenzubauen. Diese Aufgabe, so heißt es im Dokument, konnte in der Sowjetunion jeder Schüler erledigen.
Besonders ungehörig wirkt die neue Maßnahme zudem vor dem Hintergrund der Worte des Kultusministers Alexander Medinsky bei der Einweihung des Kalaschnikow-Denkmals in Moskau. Medinsky nannte das sowjetische Sturmgewehr AK-47 (Awtomat Kalaschnikowa) eine wahre kulturelle Marke Russlands.
Kulturelle Marke Russlands
Gewiss, die Kalaschnikow wird mitunter als Kunstobjekt betrachtet, dessen Form für den Verkauf von Wodkaflaschen, Tischlampen und dergleichen verwendet wird und auf den Fahnen und Wappen afrikanischer Länder wie Mosambik, Burkina Faso und Simbabwe abgebildet ist. Und trotzdem: Vom russischen Kultusminister zu hören, dass diese Waffe (wohlgemerkt nicht der Mensch Michail Kalaschnikow) auf der Liste des kulturellen Erbes Russlands zusammen mit den Namen von Puschkin, Tolstoi, Dostojewski und Tschaikowski stehen soll, ist wirklich harter Tobak.
Zu den Fakten, die laut dem Bildungsministerium Lehrer über Kalaschnikows berühmte Erfindung wissen müssen, zählt auch Folgendes: „durch Kalaschnikows wurden mehr Menschen getötet als durch Artilleriefeuer, Bomben- und Raketenangriffe. Jedes Jahr sterben durch Kugeln aus einer AK eine Viertelmillion Menschen.“ Ob Schüler dies zu Gehör bekommen, wird allein dem Ermessen des Lehrers überlassen…
Der Waffenkonstrukteur schreibt dem Moskauer Patriarchen
In der Oberschule werden sich Schüler mit dem berühmten Brief Kalaschnikows an den Patriarchen Kyrill I. auseinandersetzen können. Allerdings nur wenn der Lehrer es für nötig hält. In diesem bemerkenswerten Brief offenbart Kalaschnikow seine tiefe Verzweiflung kurz vor seinem Tod. Er schreibt:
„Mein Herzschmerz ist unerträglich und mich treibt die gleiche unlösbare Frage um: Da meine Erfindung vielen Menschen das Leben nahm, bin ich, Michail Kalaschnikow, dreiundneunzig Jahre alt, der Sohn einer Bäuerin, ein Christ des orthodoxen Glaubens, schuldig am Tod von all diesen Menschen, auch wenn sie uns feindlich gesinnt waren?“
Der russische Patriarch antwortet ebenfalls in einem Brief:
„Die von Ihnen erfundenen Waffen, die dem heimtückischen, gut ausgerüsteten Feind viele Kampfvorteile entzogen, retteten viele Leben unserer Soldaten und halfen ihnen, unser Heimatland selbstlos zu verteidigen. Ich bin sicher, dass Ihr Beitrag zur Annäherung des Großen Sieges immer im Andenken der dankbaren Nachkommen leben wird. Mit Schmerzen in Ihrem Herzen schreiben Sie, dass die Waffen, die Sie einst für gute Zwecke geschaffen haben, heute nicht immer zur Erhaltung des Friedens eingesetzt werden. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass die Verantwortung dafür nicht beim Erfinder liegt, sondern bei den bösartigen Menschen, die den technologischen Fortschritt zum Nachteil ihrer Nachbarn nutzen.“
Hier muss ein mögliches Missverständnis ausgeräumt werden. Die AK-47 wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen und 1949 in die Bewaffnung der Roten Armee aufgenommen. Wenn der Patriarch sich also auf den Beitrag Kalaschnikows zur Annäherung an den Großen Sieg bezieht, so meint er nicht die Erfindung des Sturmgewehrs AK-47, sondern vielmehr die Leistungen des Oberfeldwebels und Panzerkommandeurs eines T-34 Michail Kalaschnikow im Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945.
Der Patriot im Schatten seiner Waffe
Das erklärte Ziel des Vorschlags vom Bildungsministerium lautet: „Die Persönlichkeit von Michail Kalaschnikow als einen würdigen moralischen Bezugspunkt für die jüngere Generation darzustellen“. Hervorgehoben wird sein Patriotismus, sein langjähriger Dienst in den Streitkräften des Landes, sein professioneller Erfindungsgeist, seine trotz der Weltberühmtheit beibehaltene Bescheidenheit und seine humanistischen Idealen und Prinzipien.
Doch die Anweisungen zur konkreten Umsetzung deuten in eine andere Richtung. Im obligatorischen Teil des Unterrichts – da, wo Lehrer keine Wahl haben – muss über die taktischen und technischen Vorteile des Sturmgewehrs im Vergleich zu den ausländischen Sturmgewehren, namentlich dem amerikanischen M16, gesprochen werden.
„Ich schlafe gut…“
Die moralischen Labyrinthe der Frage, ob der Erfinder für seine Erfindung haftet, bleiben für den Unterricht fakultativ. Zudem ist die Persönlichkeit Kalaschnikows nicht widerspruchsfrei. Auf Fragen von Journalisten pflegte Kalaschnikow lange Folgendes zu sagen: „Ich schlafe gut, weil ich meine Waffen nur zum Schutz gebaut habe. Die Schuld liegt bei den Politikern, die sich nicht einigen können und meine Waffen benutzen, um Menschen zu töten.“ Der Kontrast zu dem späteren Brief an den Patriarchen ist eklatant.
Die Spannung zwischen dem Patrioten Kalaschnikow und dem späteren Christen und Humanisten Kalaschnikow scheint indes dem Geist des russischen Patriotismus nicht sonderlich dienlich zu sein.
Interessant erscheint auch der Vergleich mit dem „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“ Andrei Sacharow. Auf die immer wiederkehrende Frage, ob er Reue für seine Beteiligung an der Entwicklung monströser Waffen empfinde, antwortete Sacharow, dass er dies nicht tue, „denn es waren diese Waffen, die die Menschheit von der Entfesselung des Dritten Weltkrieges abhielten.“ Im Unterschied zu den Kalaschnikows wurde die Wasserstoffbombe bisher niemals gegen Menschen verwendet und das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens hat bisher funktioniert. Die Kalaschnikows werden hingegen mit Sicherheit noch viel Schrecken verbreiten .
Den Text des Dokuments des Ministeriums auf Russisch finden Sie hier.