Ohne Einreisegenehmigung ans Ende der Welt
Ohne Einreisegenehmigung ans Ende der Welt
Das Glück ist mit den Blinden
Von Pascal Dewes
Einen chronologisch passenden Einstieg zu finden ist schwer, wenn die zu beschreibenden Ereignisse doch nur Resultat zahlreicher Verstrickungen und Abhängigkeiten sind. Aber wie genau dieses Netz an Kausalitäten zusammengespielt hat, ist mir selbst nicht ganz klar, als ich ein siebenseitiges Urteil des Anadyrer Bezirksgerichts im Autonomen Kreis der Tschuktschen in Händen halte.
Aber irgendwo müssen wir ja einsteigen. Es ist Herbst 2015, ich verbringe mein erstes Auslandssemester in Moskau. Mein Russisch ist gerade so passabel, um den Alltag zu bewältigen, aber das hält mich nicht davon ab, für den kommenden Januar eine Reise zu planen – quer durch Sibirien in den fernen Osten des Landes. Die Krönung dieser Tour soll ein Besuch in Anadyr werden, der Hauptstadt des Autonomen Kreises der Tschuktschen, knapp unterhalb des Polarkreises. Einst strategischer Militärstützpunkt litt die Gegend schwer in den 90er Jahren und profitierte stark von der anschließenden Amtszeit des Oligarchen Roman Abramowitsch. Nachdem meine Flugtickets nach Anadyr gebucht sind, wird mir schnell deutlich, dass es dort natürlich weder Hostels noch aktive Couchsurfer gibt. Das einzige Hotel der Stadt ist mit seinen Preisen auch nicht mehr als eine Notfalllösung. Aber Russland verzeiht viel Naivität. Unverhoffte Hilfe erhalte ich von meinem Mitbewohner in Moskau. Dieser stammt eigentlich aus Rostow am Don und spricht in einem für mich völlig unverständlichen Slang. Wie sich herausstellt, hat er jedoch zahlreiche Bekannte im entlegenen Nordosten des Landes und kann mir einen Kontakt vermitteln. Von diesem bekomme ich die Zusage, dass er sich um einen Schlafplatz für mich kümmert, sowie eine Handynummer. Das reicht mir soweit; ein Smartphone besitze ich zum damaligen Zeitpunkt sowieso nicht.
Spulen wir zwei Monate vor: Am 13. Januar 2016 habe ich schon einige tausend Kilometer hinter mich gebracht, befinde mich in der Mitte meines 23 stündigen Aufenthaltes im -40°C kalten Yakutsk. In der Nacht geht mein Flieger, meine ortsansässigen Bekannten bringen mich zum Flughafen. Die Idee mich ins Gebäude zu begleiten, stellt sich als eher weniger intelligent heraus, wenn man den Inhalt seiner eigenen Hosentaschen nicht genau kennt. So wird einer meiner neuen Freunde direkt an der Einlasskontrolle abgeführt – und mit ihm natürlich die gesamte Gruppe. Mit Händen, Füßen und gebrochenem Russisch, lassen sich die Beamten überzeugen, dass ich selber mit dem Stein des Anstoßes wirklich nichts zu tun habe, weshalb sie mich direkt zu meinem Flieger entlassen. Dass ich eigentlich gar nicht in diesen Flieger hätte steigen dürfen und dass die Beamten schon sehr genau wussten, was mir noch bevorstand, sollte ich erst zwei Jahre später erfahren.
Als ich die Augen das erste Mal aufschlage, bin ich selbst nicht ganz sicher, auf welchem Planeten ich mich befinde. Wir fliegen über das endlose Grau der unwirklichen Mondlandschaft um Magadan. Von Anadyr aus betrachtet, befinde ich mich in der am nächsten gelegenen Stadt – in eintausend Kilometer Entfernung. Die Zwischenlandung vergeht wie im Traum. Nach zwei weiteren Flugstunden landen wir gegen 15 Uhr Ortszeit am Flughafen Anadyr. Dieser befindet sich eigentlich gar nicht in der Stadt Anadyr, sondern in der Nähe einer kleinen Bergbausiedlung. Die Stadt selbst liegt auf der anderen Seite des hier fünf Kilometer breiten Mündungstrichters des gleichnamigen Flusses. Eine Brücke gibt es nicht, weshalb die Überquerung im Sommer nur per Fähre möglich ist. Bei instabilem Eis im Frühling und Herbst gibt es Helikopter und Luftkissenboote, im Winter wird das Eis des zugefrorenen Flusses befahren. Eine Woche vor meiner Ankunft herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Während ich noch rätsele, auf welchem Weg ich jetzt vom Flughafen in die Stadt kommen könnte, beäugt ein Zollbeamter meinen Reisepass und fragt nach meinem Propusk [Das russische Wort für Einreisegenehmigung (kyrillisch: „пропуск“), Anm. der Redaktion]. Was das denn heißt, ist mir zu dem Zeitpunkt ein Rätsel, also zeige ich ihm mein Visum für die Russische Föderation. Ich verstehe so gut wie nichts vom Gesagten, man führt mich in einen Raum, stellt mir zahlreiche Fragen. Ziel meines Aufenthaltes? Tourismus. Dauer? Fünf Tage. Beschäftigung? Student. Wo werde ich wohnen? Das weiß ich selbst nicht, ich habe nur eine Telefonnummer. Der Zöllner ruft mit meinem Handy an und spricht mit meinem Kontaktmann; in einem weiteren Raum soll ich einer ganzen Meute von Zollbeamten mein Gepäck zeigen. Dreckige Unterwäsche, Souvenirs, das Übliche. Zwischendurch neugierige Fragen zu Deutschland; Autos, Fußball, durchschnittlicher Arbeitslohn? Es geht zurück in den vorherigen Raum, dieselben Fragen werden erneut gestellt. Langsam schwant mir, dass etwas mit meinen Dokumenten nicht stimmt. Man redet von Geldstrafen und Deportation, aber tatsächlich bedrohlich wirkt das alles nicht; ich verstehe ja auch höchstens ein Viertel des Gesprochenen. In kleinen Details offenbaren sich die kulturellen Unterschiede. Universität Trier? Das soll der gesamte Name sein? Keine mehrteilige Bezeichnung mit Abkürzung wie bei SPBGU, RGGU oder MGU? Und die Adresse? Hausnummer? Ja und welcher Korpus, welcher Eingang, welche Wohnung? Wie einfach das ganze Haus?
Nach drei Stunden stehe ich genau so orientierungslos wie zu Beginn im Flughafen und frage einen Beamten, ob ich vielleicht eine Zigarette rauchen könne. Man erzählt mir, dass wir jetzt sowieso raus müssen; wir fahren zum Sud [Das russische Wort für Gericht (kyrillisch: „суд“), Anm. der Redaktion]; dort gibt es noch eine Unterschrift, dann bin ich frei. Was das alles heißt, ist mir immer noch schleierhaft, das Wort Sud existiert bis dato nicht in meinem russischen Wortschatz. Draußen ist es mittlerweile dunkel, in einem Geländewagen fahre ich mit einem Beamten durch eine Reihe von Gebäuden, die definitiv schon bessere Zeiten gesehen haben. Ob hier überhaupt Menschen leben oder ob alles verlassen ist, kann ich nicht abschätzen. An einem heruntergekommenen Blockgebäude bleiben wir stehen, ich werde in voller Montur mit Winterjacke und Gepäck im Empfangsbereich geparkt, der Beamte geht weg. Ich beobachte, wie einige Leute sich in den Feierabend verabschieden und warte wie bestellt und nicht abgeholt, ohne zu wissen auf was oder wen.
Eine Stunde später spricht mich eine Frau an und fragt, was ich hier eigentlich zu suchen habe. Ich berichte grinsend, dass ich ohne Propusk eingereist bin und eigentlich auch nicht weiß, was ich hier mache. Nach fünf Minuten bringt sie mich in einen Saal und ich verstehe, was das Sud denn eigentlich ist. Die Angst vor dem Bevorstehenden wird von einer Euphorie des Wahnsinns überschattet. Zumindest wird das eine richtig witzige Geschichte.
Eine Frau tritt ein, fordert mich auf, mich zu erheben. Auftritt des Richters in Robe; ich sitze in Winterkleidung mit meinem Rucksack neben mir auf einer Anklagebank und schaue die gegenüber sitzende Protokollantin an. Der Richter spult unverständliche Paragraphen und Protokolle in einem monotonen Doubletime-Rap herunter, spricht, spricht und spricht. Er wiederholt dieselben Fragen aus dem vorherigen Protokoll, ich wiederhole dieselben Antworten. Dann wieder die monotone Justizliturgie. Irgendwann hebt er seinen Blick vom Papier und schaut mich an: „Verstehen Sie eigentlich, um was es hier geht?“ Ich antworte wahrheitsgemäß: „Ich glaube, die zentrale Botschaft ist angekommen.“
„Und was ist die zentrale Botschaft?“.
„Ich darf nicht ohne Propusk in die Tschukotka einreisen.“
„Verstehen Sie die möglichen Folgen? Deportation! Geldstrafe!“
„Ja, soweit schon.“
Was ich hier natürlich nicht ausspreche, ist, dass mir der Gedanke einer Deportation damals wirklich keinerlei Angst einflößt und beinahe etwas sarkastisch wirkt. Vom buchstäblichen Ende der Welt, wo Alaska näher als Moskau liegt, scheint eine Deportation nicht sehr drakonisch.
Irgendwann nimmt die Verhandlung ein Ende, ich bekomme einen Stapel Papier und werde in ein Auto gesetzt. Wir überqueren den zugefrorenen Fluss, während der lachende Fahrer mir ein Video von einem LKW zeigt, der vor ein paar Tagen durch das Eis gebrochen ist. Vor lauter Zeitzonenchaos habe ich keine Ahnung mehr, wieviel Uhr es ist, oder wo ich jetzt hingebracht werde. Aber als ich im Stadtgebiet aus dem Auto steige, weiß ich, dass dieses surreale Theaterstück der russischen Bürokratie ein Ende hat. Ein warmherzig lächelnder Mann begrüßt mich und stellt sich als mein Kontakt Denis vor. Dass man für die Tschukotka eine gesonderte Einreisegenehmigung braucht, wusste er bis dato auch nicht, aber er versichert mir, dass zumindest keine Justiz-Abenteuer mehr folgen werden. Und damit sollte er auch Recht behalten. Tatsächliche Konsequenzen hatte mein absonderlicher Gesetzesbruch keine. Was bleibt, ist nur ein einzigartiges Souvenir in Form eines Gerichtsurteils, in dem etwas von faktischen Gesetzesbrüchen und Geringfügigkeit der Tat geschrieben steht.