Roter = Atheist, Russe = orthodox?
Roter = Atheist, Russe = orthodox?
Atheismus war eine der tragenden Säulen der sowjetischen Ideologie, genauso wie heute die Orthodoxie ein selbstverständlicher Bestandteil der russischen nationalen Idee zu sein scheint. Wie kam es, dass die Atheisten in Russland innerhalb einer Generation zu Gläubigen wurden?
11.02.2020, von Sergei Zubeerov
Im ganzen Land werden wieder Kinder getauft
Ich wurde vier Jahre nach dem Zusammenbruch der atheistischen Sowjetunion geboren und war nicht einmal ein Jahr alt, als ich gemäß dem orthodoxen Ritus getauft wurde, eine Ganzkörpertaufe also. Im Gegenteil zu Leo Tolstoi, der sich erinnerte, wie er als Einjähriger gewickelt wurde und sich heftig dagegen sträubte, erinnere ich mich an den Tag meiner Taufe gar nicht. Im Familienalbum gibt es aber ein einschlägiges Foto: Ich, im Adamskostüm und vor lauter Schreien rot im Gesicht, werde von einem Priester in ein Taufbecken mit Weihwasser getunkt.
Gut in Erinnerung habe ich aber, wie zehn Jahre später mein Bruder getauft wurde. Die ganze Familie fuhr auf einer Fähre über die Wolga zum Makarios-Scholtowodski-Dreifaltigkeitskloster. Die schöne Klosteranlage liegt ungefähr 100 Kilometer von Nischni Nowgorod entfernt. Gibt es nicht genug schöne Kirchen in der Stadt selbst? Durchaus! Warum also so weit fahren? „Der Ort ist besonders heilig“ lautete die Antwort meiner Eltern – dabei gehen sie sonst fast nie in die Kirche. Sie würden sich als orthodox bezeichnen, finden aber Menschen, die ihre Religion im Alltag leben und oft in die Kirche gehen, suspekt. Ich habe meine Mutter nie beten sehen, musste aber, bevor ich nach Deutschland fuhr, auf ihre Bitte hin eine kleine Ikone in Spielkartengröße zum Schutz von Reisenden in meinen Rucksack stecken.
Meine Oma Tatjana, die vor 40 Jahren in einer sowjetischen Schule in Gorky, dem heutigen Nischni Nowgorod, Geschichte unterrichtete, erzählte mir, dass es damals undenkbar gewesen wäre, sich in der Öffentlichkeit als gläubig zu bezeichnen. In die Kirche zu gehen oder ihre eigenen Kinder taufen zu lassen, hätte das Ende ihrer Karriere als Lehrerin bedeutet. Denn der Glaube ist inkompatibel mit der kommunistischen Ideologie und war in pädagogischen Einrichtungen absolut tabu.
Alle waren Atheisten und plötzlich werden alle orthodox?
Nach Angaben des Lewada-Zentrums, Russlands unabhängigen Meinungsforschungsinstituts, bezeichneten sich 2017 53% der Russen als gläubig und lediglich 13% als Atheisten. Darüber hinaus hatten 92-93% der Befragten eine positive Einstellung zur russisch-orthodoxen Kirche. So weit so gut – obwohl mir diese rasche Kehrtwende nach 70 Jahren flächendeckenden Atheismus‘ ziemlich erstaunlich erscheint. Noch erstaunlicher ist Folgendes: 75% der Russen bezeichnen sich als russisch-orthodox laut Angabe des von der Regierung abhängigen Meinungsforschungsinstitutes WZIOM. Daraus folgt, dass es mehr Orthodoxe als Gläubige geben soll. Dieser Widerspruch dürfte kein Zufall und keine Fälschung sein, vielmehr spiegelt er die Widersprüchlichkeit der Russen selbst wieder.
Eine weitere Lewada-Studie attestiert, dass 13% der orthodoxen Christen nicht an Gott glauben und somit orthodoxe Atheisten sind. Diese Bezeichnung ist übrigens in Mode seitdem sich der Präsident Weißrusslands Aljaksandr Lukaschenka einmal als „orthodoxer Atheist“ bezeichnete und damit offensichtlich vielen im postsowjetischen Raum aus der Seele sprach.
Apropos Präsident… Über die großen seelischen Wandlungen der russischen Nation verraten auch ihre Staatschefs etwas: Der letzte Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow bezeichnete sich mehrmals öffentlich, obwohl er getauft war, als Atheist und in letzter Zeit als Agnostiker. Der erste russische Präsident Boris Jelzin sagte, er glaube an Gott, aber nicht daran, dass er ins Paradies komme. Ihm wird ebenfalls nachgesagt, dass er Ostern und Weihnachten verwechselte. Der heutige russische Präsident und ehemalige KGB-Offizier Wladimir Putin erscheint regelmäßig in der Kirche, posiert gerne neben dem Patriarchen und philosophiert über die Bedeutung des orthodoxen Glaubens für die Geschichte Russlands.
Die Wichtigkeit der Orthodoxie für die Russen
Aus dem Geschichtsunterricht weiß jeder russische Schüler: Die Christianisierung Russlands 988 war ein großes Ding. Es wird die Anekdote erzählt, dass der Großfürst Wladimir I. seine Boten der Reihe nach zu Muslimen, Juden, Katholiken und Orthodoxen entsendete, um herauszufinden, welche der Konfessionen den schönsten Gottesdienst zelebriert. Die Orthodoxie gewann diesen einzigartigen Wettbewerb höchstwahrscheinlich nicht nur wegen der Schönheit ihrer Kircheninterieurs, denn die Vertreter dieser Religion, die Byzantiner, waren die mächtigsten politischen Akteure in der Region. Daraufhin ließ Wladimir zunächst sich selbst taufen und dann wurde das ganze Land ratzfatz christianisiert.
Diese Geschichte ist wichtig, denn die Russen beanspruchen seitdem eine besondere Rolle in der Weltgeschichte für sich. Nachdem das byzantinische Reich gefallen war, sah man sich in Moskau als dessen Nachfolger und letzte Bastion der „richtigen“ Religion. Die Historiker haben dafür einen lateinischen Begriff parat: Translatio imperii, zu Deutsch „Übertragung des Reiches“. Bei den Herrschenden in Moskau kristallisierte sich die Formel „Moskau ist das dritte Rom“ heraus: Das erste Rom wurde 410 von Barbaren geplündert, das zweite Rom (Konstantinopel) wurde 1453 von den Osmanen erobert. Das dritte Rom (Moskau) aber wird ewig fortbestehen und es wird kein viertes Rom geben.
Die orthodoxe Kirche war nicht nur eine Institution, die die spirituellen Bedürfnisse der Menschen erfüllt, sondern gab sehr lange den Ton in der Innen- und Außenpolitik an. Sie war ein essenzieller Bestandteil der Staatsideologie. Im späten 19. Jahrhundert sah man sich deshalb auch verpflichtet, ganz Osteuropa von den Türken zu befreien und Konstantinopel zu erobern…
Und dann kam die Oktoberrevolution, deren Architekten eine ganz andere Vorstellung von der Rolle der Religion innerhalb des Staates hatten. Es lohnt sich, einen Blick hinter die offiziellen Formeln „Opium des Volkes“ und „konterrevolutionäre Macht“ zu werfen, nämlich in die Weltanschauung des Regierungschefs des kommunistischen Landes. Wie der neue homo sovieticus über die Religion zu denken hatte, wird in Lenins Brief an Maxim Gorky demonstriert. Der sozialistische und später offizielle sowjetische Schriftsteller Maxim Gorky liebäugelte mit der Idee eines säkularen Gotterbauertums, demzufolge Christentum und marxistische Lehre vereinbar sind. In einem Brief nimmt der Bolschewik Lenin Gorkys Weltanschauung aufs Korn und zeigt dabei unmissverständlich, wie wenig er von der Religion hält: „Die Suche nach Gott unterscheidet sich von Gotterbauertum, Gottschaffung oder Gottkreation um keinen Deut mehr als sich ein gelber Teufel von einem blauen Teufel unterscheidet. Über Gotterbauertum zu reden, um nicht alle möglichen Teufel und Götter, und jede ideologische Nekrophilie zu leugnen (jedes Göttchen ist ein Fall der Nekrophilie – auch wenn es das sauberste, perfekteste, nicht gesuchte, sondert erbaute Göttchen ist) – sondern um das Blaue dem Gelben vorzuziehen, ist hundertmal schlimmer, als darüber ganz zu schweigen“.
Ich frage mich immer noch, was Gorky gedacht haben mag, als er zusah, wie Stalin nach dem Tod Lenins dessen mumifizierte Leiche in einem Mausoleum auf dem Roten Platz ausstellen ließ. Wenn das nicht Nekrophilie und Gottkreation ist…
Die Trennung von Kirche und Staat erfolgte gleich nach der Oktoberrevolution. Die Verordnung der sowjetischen Regierung ging aber noch weiter und verbot der russisch-orthodoxen Kirche das Recht auf Eigentum und jede Möglichkeit, sich als juristische Person zu verteidigen. Die massiven Repressionen gegen Priester sowie Zerstörungen und Plünderungen der Kirchen in den ersten Jahren nach der sowjetischen Machtübernahme sind bekannt. Dass man das zentrale Gotteshaus der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau, die Christ-Erlöser-Kathedrale, 1931 sprengen ließ und auf ihrem Platz das Freibad „Moskwa“ errichtete, spricht Bände.
20 Jahre antireligiöse Politik und eine enttäuschende Volkszählung
Am 6. Januar 1937 fand eine Volkszählung statt, eine Zäsur für das sowjetische Land. Nach 20 Jahren kommunistischer Herrschaft erwartete man die volle Beseitigung des Analphabetismus und die totale Verbreitung des Atheismus in der Bevölkerung. Doch es kam anders. Derart anders, dass Stalin die Volkszählung kurzerhand für geheim erklärte und viele der Organisatoren als „Schädlinge” in die Verbannung schicken oder gar erschießen ließ.
Was hat Stalin so verärgert? Schließlich bestand er, wie die Forscher glauben, selbst darauf, dass die Frage nach der Religion in dem Fragebogen vorkommen sollte. Religiosität kam einem Aberglauben gleich, den es zu beheben galt. Darüber hinaus wollte man der Welt die Erfolge der atheistischen Propaganda zeigen und die Politik der harten Repressionen gegen die Kirche rechtfertigen. Was das Bildungsniveau anbelangt, so waren die Kriterien gezielt sehr niedrig gestellt: Man galt als gebildet, sobald man in Silben lesen und seine eigene Unterschrift schreiben konnte.
Gläubig waren 56,7% der gesamten Bevölkerung – ironischerweise fast genauso viele wie 90 Jahre später – obwohl man mit Sicherheit sagen kann, dass es noch mehr Gläubige gab, die sich fürchteten und ihren Glauben angesichts von 20 Jahren Repressionen nicht preisgeben wollten. Doch selbst unter diesem extremen Druck zeigte die Bevölkerung eine gewisse Illoyalität der Partei gegenüber und stellte die Politik der Kirchenzerstörung infrage. Die Regierung verbreitete die Vorstellung, das Land brauche keine Kirchen mehr, da es offiziell keine Gläubigen mehr gab, abgesehen vielleicht von ein paar ungebildeten alten Frauen. Doch befanden sich laut der Volkszählung unter den gebildeten Männern im Alter von 16-49 Jahren 75% Gläubige und unter den Frauen in der gleichen Altersgruppe 88%.
Übrigens ist die überlieferte Reaktion der Menschen auf die bevorstehende Volkszählung sehr interessant: Es gab Gerüchte, man werde alle Gläubigen verbannen, aus den Kolchosen werfen oder zumindest mit zusätzlichen Steuern belegen. In manchen Regionen kam zudem das Gerücht auf, dass die Nazis, wenn sie kämen, alle Atheisten aufhängen würden.
Stalins Instrument
Die Nazis kamen tatsächlich. Dass Religion ein Politikum höchsten Grades sein kann, verstand nicht nur Stalin, sondern auch Hitler, der Kirchen auf den okkupierten Territorien wiedereröffnen ließ. Stalin nahm die Ergebnisse der Volkszählung zur Kenntnis. Davon zeugt die Auflockerung seiner repressiven Politik gegenüber der Kirche, die nach dem Beginn des Krieges mit Hitler begann und 1943 in ein Treffen von Stalin mit dem Metropoliten (vergleichbar mit dem Titel eines Bischofs in einer Großstadt) und der Wahl eines neuen Patriarchen gipfelte.
Der Historiker und Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Igor Kurljandski ist der Meinung, das Stalin’sche Tauwetter hinsichtlich der russisch-orthodoxen Kirche sei nur ein taktisches Manöver gewesen. Angesichts der sehr schwierigen Lage im Jahr 1941 nutzte Stalin das Potential der Kirche, um eine noch überwiegend gläubige Gesellschaft zusammenzuschweißen.
Da Stalins versöhnliche Geste nicht sentimentalen Gefühlen geschuldet, sondern ein Teil kalkulierter Realpolitik war, bedeutete sie keineswegs eine orthodoxe Renaissance, und in der Tat begann schon unter dem Nachfolger Stalins, Nikita Chruschtschow, eine neue Welle antireligiöser Propaganda. Sie zeigte sich vor allem in Zeitungen und Büchern dieser Zeit – nicht zu vergessen sind aber die antireligiösen Plakate, die alte bärtige Priester systematisch und pauschal als lüsterne Trinker darstellten. Mein Lieblingsplakat zeigt einen Kosmonauten im Weltall, der Ausschau hält und freudig vermeldet, dass es hier Gott nicht gäbe.
Auch meine Oma erzählte ihren Schülern im Geschichtsunterricht, dass die Religion nur dazu da sei, um den armen Bauern die Sicht auf die miserable Realität des zaristischen Russlands zu verschleiern. Heute sind alle ihre Kinder und Enkelkinder getauft…
Aus welchem krummen Holze?
Warum bezeichnen sich heutzutage 13% der Russen als Orthodox, obwohl sie nicht an Gott glauben? Mehr noch: Laut WZIOM kann ein Drittel der Russen keines der Zehn Gebote nennen; etwas mehr als die Hälfte konnte sich gerade noch an „du sollst nicht stehlen“ und „du sollst nicht töten“ erinnern. Das Lewada-Zentrum berichtet, dass 16% der Orthodoxen nicht an ein Leben nach dem Tod glauben. Dagegen glaubt ein Drittel der russischen Atheisten an das Reich Gottes. Sollte man sich vielleicht – Kant paraphrasierend – fragen: „Aus welchem krummen Holze sind die Russen gemacht, dass man weder normale Atheisten noch normale Orthodoxe daraus machen kann?“ Die Vorstellung, dass die Russen alle Atheisten waren, jetzt aber alle gläubig sind, stimmt einfach nicht. Man könnte sogar die Behauptung wagen, dass die Anzahl der echten Gläubigen in den letzten 90 Jahren fast konstant geblieben ist. Was sich änderte, ist die Staatsideologie, die gerne ihre Subjekte als homogene Anhänger einer Idee darstellen möchte.
Das rasche und oberflächliche Umschwenken vom Atheismus zur Orthodoxie ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, dass beides, Ideologie und Religion, eins gemeinsam haben: Sie geben den Menschen ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Für viele Experten lässt sich der Widerspruch der orthodoxen Atheisten dadurch erklären, dass die Russen sich als orthodox bezeichnen, weil es für sie gleichbedeutend mit Russischsein ist.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand ein ideologisches Vakuum. 1996 ließ Boris Jelzin einen Wettbewerb für die Ausarbeitung einer neuen nationalen Idee ausschreiben. Diese Geste ist vielsagend und die Kritiker bemerkten, eine nationale Idee ließe sich doch nicht von oben dekretieren, denn auf diese Weise verfalle sie sofort zu einer Staatsideologie. Der Terminus „nationale Idee“ erinnert ohnehin stark an die Uwarow’sche Triade (Autokratie, Orthodoxie, Volkstum), eine von oben dekretierte nationale Idee aus den Zeiten von Zar Nikolaus I.
Der Wunsch nach der Kontinuität der Geschichte und die heftige Verurteilung der kommunistischen Vergangenheit in den ersten postsowjetischen Jahren erklären auch die Sehnsucht nach dem verlorenen Adel. Mit Bewunderung lauscht man der vornehmen russischen Sprache, die die Kinder einst geflohener Aristokraten in Videointerviews sprechen. Insofern sollte es nicht überraschen, dass im Jahr 2000 die letzten Romanows in Russland zu heiligen Märtyrern erklärt wurden. Meine Oma sagt mitunter, dass es doch gut gewesen wäre, wenn es nur die bürgerliche Revolution im Februar 1918 gegeben hätte: Ohne Lenin also und vielleicht sogar mit einem Zaren, der so wie in Großbritannien eine symbolische und repräsentative Rolle spielt.
„Der Ort ist besonders heilig“
Zur Taufe meines Bruders fuhren wir auf einer Fähre über die Wolga zum Makarios-Scholtowodski-Dreifaltigkeitskloster. Die weißen festungsartigen Klostermauern werden von der Linie der Wasseroberfläche unterstrichen, die großen versilberten und die kleinen vergoldeten Zwiebeltürmchen ragen zu den weißen Wolken empor. Der Anblick ist überwältigend. Der Ort ist menschenleer und ruhig. Wenn ich an dieses Erlebnis zurückdenke, verstehe ich, dass meine Eltern mit dem Ausdruck „Der Ort ist besonders heilig“ eigentlich meinten, dass sie inmitten dieser Schönheit und Ruhe dem grauen Alltag einer mit Plattenbauten übersäten Stadt entrinnen und sich besinnen zu können. Darüber hinaus fängt hier gewissermaßen die Geschichte unserer Heimatstadt Nischni Nowgorod an, denn seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts fand um das Kloster der Makarios-Markt statt, damals der größte Markt Russlands. Nach einem großen Brand wurde der Markt nach Nischni Nowgorod umgesiedelt, was der Stadt zum großen Aufstieg verhalf. In diesem um die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts gegründeten Kloster zu sein, heißt also einen lebendigen Bezug zu unserer Geschichte zu fühlen. Hier Kinder taufen zu lassen, heißt sie in die tausendjährige russische Tradition und Kultur einweihen zu wollen.