„Roter Herbst in Chortitza“ von Tim Tichatzki – eine Buchrezension
„Roter Herbst in Chortitza“ von Tim Tichatzki – eine Buchrezension
von Leah Hemptenmacher
In fünf Abschnitten erzählt Tim Tichatzki in seinem historischen Roman „Roter Herbst in Chortitza“ die Geschichte der Jugendfreunde Willi Bergen und Maxim Orlov und führt dabei durch die Historie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die beiden Jungen lernen sich nach dem ersten Weltkrieg in Willis Heimat, dem deutschen Dorf Osterwick in der Ukraine kennen und verleben gemeinsam einige friedliche Jahre. Doch die Unruhen, die der Sturz des Zaren Nikolaus I. und das Aufstreben der Kommunisten mit sich bringen, erreichen auch die mennonitische Siedlung. Der Bürgerkrieg und die Revolution bedeutet vor allem Leid und Hunger für die frommen Christen. Nachdem Maxims Vater sich für die Gemeinschaft aufopfert und stirbt, trennen sich die Wege der Jungen wieder. Während Willi in seiner Heimat verbleibt und versucht, entgegen der zunehmend festen Hand des kommunistischen Regimes seinen Überzeugungen gemäß zu leben und seine Familie zu schützen, findet Maxim seine Zukunft in den Rängen der Sojwetfunktionäre. Auch wenn er anfangs noch als heimlicher Dissident, als Verschwörer gegen das Regime Verbündete sucht, wird er nach und nach aus Enttäuschung vom Leben und Aussichtslosigkeit im Kampf gegen das Unrecht zu einem perfekten Rädchen in einem System der Willkür und des Terrors. Trotzdem muss Maxim stets darum fürchten, als Instrument der Diktatur selbst ins Visier der Führung zu geraten.
Auch in Osterwick lasten die Bürden der sowjetischen Führung zunehmend schwer auf der Bevölkerung. Neben den unerfüllbaren Abgabequoten, die im Winter zu lebensbedrohlichen Hungersnöten führen, lastet auch das Religionsverbot schwer auf den gläubigen Mennoniten. Mit Willis Kindern wächst nun eine neue Generation heran, die ein Leben ohne Sowjetherrschaft nicht kennt. Auch wenn die Kämpfe sie noch nicht erreicht haben, spüren die Bewohner die Auswirkungen des in Europa tobenden zweiten Weltkrieges. Als die deutsche Front dann die Ukraine erreicht, hoffen die Bewohner von Osterwick auf eine Befreiung und ein Ende der Schrecken. Doch die Evakuierung nach Thüringen erweist sich als Erlösung von kurzer Dauer – das Gebiet wird nach Kriegsende mit der Niederlage Deutschlands russische Besatzungszone und Willis Familie, erneut im Machtbereich des Sowjetregimes, wird mit vielen weiteren deutschstämmigen Familien repatriiert und in ein Arbeitslager nach Sibirien deportiert. Dort kommt es dann zum erstmaligen Wiedersehen mit dem gebrochenen und entmenschlichten Maxim. Beide wissen nicht, ob sie sich erneut als Freunde gegenüberstehen werden.
Das Werk Tichatzkis ist unterteilt in fünf größere Abschnitte, die das Leben der Charaktere in geschichtlich unterschiedlich geprägten Phasen schildern: über die Bürgerkriegsjahre, die erstem Jahre unter Stalin, die Hochphase des roten Terrors, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit in den Arbeitslagern. Die einzelnen Kapitel wechseln kleinschrittiger nach Personen und Orten.
Der historische Roman ist in einem simpel gehaltenen Stil geschrieben und ermöglicht einen leichten Lesefluss. Es sind auch Passagen enthalten, die eher an ein Sachbuch erinnern, da an vielen Stellen eine geschichtlich-informative Schreibweise zu finden ist. Im Text vereinzelt enthalten sind originale Zitate, Auszüge aus Reden oder anderen geschichtlichen Dokumenten, die der Erzählung damit eine besondere Greifbarkeit geben. Zum Großteil schildert der Autor die Geschehnisse auf eine sehr nüchterne, unverblümte Weise – trotz teils recht gewalttätiger Szenarien und schockierender Handlung. Verbunden mit einer Innenperspektive auf die Gedanken und Emotionen der handelnden Personen, erhalten Tichatzkis Ausführungen noch größere Wirkung. Der Leser erhält tiefen Einblick in die Empfindungen und Motive der Figuren, was eine Einordnung in die klassischen Kategorien des „Guten und Bösen“ schwierig macht – die Charaktere haben Komplexität, oft plagt sie eine Zerrissenheit zwischen den eigenen Überzeugungen und dem Schutz anderer Interessen. Häufig besteht ein innerer Konflikt zwischen dem Willen, Widerstand gegen das Sowjetregime zu leisten und gleichzeitig das Leben der Familie und Freunde schützen zu wollen. Mehr und mehr müssen die eigenen Prinzipien und Überzeugungen unterdrückt oder verworfen werden: für Willi sind es seine religiös-mennonitischen Werte, die angesichts des Religionsverbotes zur Gefahr werden. Für Maxim ist es der Glaube an seine letztendlich guten Absichten, dem Regime entgegenzuarbeiten – auch wenn es für den Moment noch große Opfer fordert.
„Er hatte sich von der erdrückenden Kraft des Systems mitreißen lassen und es war ihm mittlerweile gleichgültig, ob er selbst oder andere dadurch zu schaden kamen.“
Die Darstellung der Innenwelt der Figuren ist die große Stärke des Romans. Die Nachfühlbarkeit ihrer Schicksale und Nöte bedeutet erzeugt eine starke Bindung des Lesers an die Charaktere. Zusammen mit kühl-sachlichen Beschreibungen leidvoller Szenarien und der Historizität des Romans, die dem Leser stets vor Augen führt, dass die Geschichte keineswegs wilder Fantasie entspringt, wird das volle Wirkungspotenzial ausgeschöpft.
Gut veranschaulicht werden außerdem die Sowjetideologie und die Funktionsweisen der Sowjetbürokratie. Die Bürger sind der Willkür eines ganzen Systems ausgeliefert und damit auch der Willkür des Einzelnen, ein Widersetzen ist zwecklos und selbst regimetreues Verhalten garantiert keine Sicherheit. Mit großer Frustration erlebt der Leser, wie die diktatorischen Maßnahmen allein der Erfüllung einer vorgegebenen Quote dienen, ohne tatsächlich an Gesetzen orientiert oder „ideologiegerecht“ zu sein.
Tichatzki schafft es außerdem, an den richtigen Stellen Hoffnung zu erzeugen, nur um sie im nächsten Moment wieder gänzlich zu nehmen. Somit gibt es ein stetiges Bangen um das Schicksal der Figuren.
Noch einmal besondere Ausdruckskraft erhält die Geschichte durch Berufung auf den eigenen Familienhintergrund. Die Erlebnisse von Willi Bergen niederzuschreiben ist zugleich ein Stück Aufarbeitung der eigenen Familienvergangenheit. Wie es Erzählungen nach einer wahren Geschichte an sich haben, vermögen sie den Leser besonders zu fesseln. Es wird auch deutlich, dass das Schicksal seiner Angehörigen zwar das individuelle Vorbild war, in seiner Schwere für die Leidtragenden aber auf viele Familien übertragbar ist. Auch sehr eindrucksvoll ist der Epilog, in dem die Nachkommen der Bergens sich an die Ereignisse zurückerinnern und aus der Gegenwart reflektieren.
„[Willi] blieb stehen…und fragte sich erstmals im Leben, ob es wirklich einen Gott gab“.
Die Atmosphäre des Romans ist streckenweise recht bedrückend. Die Thematik ist an sich schon schwere Kost und Tichatzkis teils sachlich-nüchterner Stil gibt vielen Stellen eine schauderhafte Wirkung. Eine so greifbare Beleuchtung der vielfältigen Leiden der Menschen ist sicher nicht für jeden Leser geeignet. Auch die mitunter aufkommende Frustration in der vergeblichen Erwartung eines guten Ausgangs der Geschichte muss nicht bei jedem Anklang finden.
Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass Tichatzki mit „Roter Herbst in Chortitza“ ein bewegender Roman gelungen ist, der unterschiedlichste Lebensgeschichten in historisch prägenden Phasen verfolgt und daran sehr wirkungsvoll den Verlauf der Geschichte spiegelt.
„Roter Herbst in Chortitza“ von Tim Tichatzki
Erscheinungsdatum: 09.02.2018
Brunnen Verlag, 1. Auflage