„Acid“ von Alexander Gorchilin: Säure frisst die Seele auf
Säure frisst die Seele auf
Im neuen Film von Alexander Gorchilin ergießt sich Säure über die Moskauer Mittzwanziger. Eine Filmrezension.
18. September 2019, von Sergei Zubeerov
Etwas irreführend ist der deutsche Titel des Filmes „Acid“ sowie das deutsche Poster mit dem verschwommenen Hintergrund und den grellen Farben schon: Zwar steht das Wort „kislota“ aus dem russischen Original sowohl für chemische Säuren als auch für die LSD-Droge, aber trotzdem sollte der Film im Deutschen korrekt eher mit „Säure“ und nicht mit „Acid“ übersetzt werden. Denn abgesehen von der allerersten Szene spielen Drogentrips im Film keine Rolle.
Die Säure ist hier eine komplexe Metapher und sie nimmt im Laufe des Filmes stets neue Formen an. Vielleicht wäre es nicht ganz abwegig daran zu erinnern, dass sich das Wort „Melancholie“ auf die schwarze Galle bezieht und dass manche Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts daher von der „melancholischen Säure des Temperaments“ sprachen.
Die simple Handlung des Filmes lässt sich in drei Sätze fassen: Petya, Sascha und Iwan, alle Anfang zwanzig, sind befreundet und leben in Moskau. Iwan begeht ganz unerwartet Selbstmord. Dies verändert einiges im Alltag von Petya und Sascha.
Aber zurück zur Säure: Zunächst erscheint sie als Chlorsäure in einer kleinen Flasche. Der skrupellose Künstler Wasilisk, dem Petya und Iwan auf einer Party begegnen, inszeniert eine kleine Show. Er kippt Säure in ein Becken und tunkt eine kleine Figur eines kommunistischen Pfadfinders aus Gips hinein. Was danach übrigbleibt nennt er „Kunst“. Hauptsache provozieren, sagt er.
Nach einer wilden Party mit Wasilisk trinkt Petya aus der mit Säure gefüllten Flasche, um gleichsam ein Schweigegelübde à la Andrej Rubljow aus dem gleichnamigen Tarkowski Film abzulegen – danach kann er nämlich eine Zeitlang nicht sprechen. Der verzweifelte Petya fühlt sich schuldig am Selbstmord seines Freundes. Dieses Ereignis gleich zu Beginn des Filmes lässt nun die „melancholische Säure“, die sich im Geist der Protagonisten sammelt, ihre Gefühle verätzt und „die Seele auffrisst“, frei fließen.
Der Film könnte auch – mit einer schelmischen Anspielung auf Turgenews berühmten Roman – „Väter und Söhne“ oder gar „Mütter und Söhne“ heißen. Der Künstler Wasilisk sagt während seines Schaffens mit der Säure sinngemäß: „Mein Vater schuf diese kommunistischen Skulpturen, ich mache daraus moderne Kunst.“ So zerstört er das, was für die Generation seines Vaters fast schon heilig war.
Gleichwohl ist der Generationskonflikt bei den Hauptfiguren am heftigsten zu spüren. Petya wohnt bei seinem Freund Sasha, da seine Eltern nichts von ihrem Sohn wissen wollen. Sasha ist ohne Vater aufgewachsen und führt seine Trägheit, seinen Mangel an Willen auf die Unzulänglichkeit dieser exklusiv weiblichen Erziehung zurück.
Das Modewort „Helikopter-Eltern“ ist hier nicht fehl am Platz, denn die Russen, die in den neunziger Jahren die Wirtschaftskrise überstanden hatten, haben alles dafür getan, dass ihre Kinder ihre Probleme nicht noch einmal erleben müssen. Gorchilin legt Sasha folgende sehr aufschlussreiche Worte in den Mund: „Unser Problem ist es, dass wir keine Probleme haben“. Vielleicht ist es diese Problemlosigkeit und Ausbleiben von echten Herausforderungen, die die Protagonisten zu nihilistischen Experimenten verleiten. Am Ende fließt die Säure sogar im Allerheiligsten des neuen Russlands – in der Kirche.
Der Film hat viele Facetten, aber auch manche Schwächen: Viele Figuren bleiben sehr skizzenhaft umrissen, die Szenen lösen sich schnell ab ohne einen klaren Zusammenhang aufzuweisen. Trotzdem gelingt es der Säure-Metapher das Potpourri aus dem Leben der Mittzwanziger zusammenzuhalten.
Entgegen dem Titel und der Gestaltung des Posters handelt es sich bei „Acid“ nicht um das russische „Trainspotting“ oder „Requiem for a Dream“. Er ist auch keine wilde Trip-Geschichte im Stil von Gaspar Noé. Gorchilin bewundert in einem Interview ganz offen die künstlerische Freiheit, die sich Gaspar Noé in seinem Film „Love“ leistet. In diesem Zusammenhang gibt er zu auf seinen Geldgeber – das russische Ministerium für Kultur -Rücksicht genommen zu haben, aber eigentlich seinen Film „krasser und drastischer“ machen können bzw. zu wollen. Dennoch kommt es dem Zuschauer so vor, als hätte Gorchilin das Ministerium hereingelegt, denn nach dem Vorspann sieht man allerhand Drastik: Sex, Drogen und Selbstmord – alles, worüber die russische Regierung eigentlich nicht gerne spricht. Die Drastik wird aber nicht zum Selbstziel. Gorchilin ist es gelungen einen tiefen Film „zum Nachdenken“ gedreht zu haben. Bezeichnend dafür ist, dass der Darsteller von Sasha nach Abschluss der Dreharbeiten die Hilfe eines Psychologen brauchte, um aus der Rolle „auszusteigen“.
Trailer: http://www.salzgeber.de/presse/trailer/Acid_TLR_640x376_24p_RU-DE_20_Webfile_neu_V2.mov