Sowjetischer Konstruktivismus – Der Kunst der Oktoberrevolution und ihr Vermächtnis
Sowjetischer Konstruktivismus – Der Kunst der Oktoberrevolution und ihr Vermächtnis
von Emil Herrmann
Die Ära des sowjetischen Konstruktivismus war nicht von sehr langer Dauer. Nur grob zwei Jahrzehnte waren die Künstlerinnen, Theoretiker und Architekten der avantgardistischen Strömung in der Sowjetunion tätig. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die revolutionären und utopischen Ideen der Kunstrichtung sich auch heute noch in Kultur und Architektur überall auf der Welt wiederfinden lassen.
Die ersten konstruktivistischen Werke und Ideen stammen von futuristischen Künstlerinnen und Künstlern, die zum Ende des ersten Weltkrieges und dem Prozess der sozialistischen Revolution Russlands eine neue Art Kunst zu denken und zu produzieren entwickelten. Künstler wie Liubov Popova, Alexander Vesnin, Rodchenko, Varvara Stepanova, und Theorektier wie Aleksei Gan, Boris Arvatov and Osip Brik wollten eine Kunstrichtung schaffen, die Praktikabilität und Schönheit miteinander vereinte. Die Beschaffenheit von Objekten und Materialien in ihren Formen und ihrer Nutzbarkeit sollte mit der neuen avantgardistischen Kunstform dargestellt werden. Hintergrund dieser Herangehensweise war ein neuer Blickwinkel auf Kunst als zweckgebundenes Mittel. Kunst sollte nicht mehr wie in der Vergangenheit üblich zum Selbstzweck produziert werden. Dieser Gedanke war ebenso in den Werten und Zielen der Bolschewiki zu finden, mit welchen die Künstler des Konstruktivismus zu großen Teilen auf derselben ideologischen Linie standen. In der Idee des Sozialismus wird alles nach der Zweckdienlichkeit für das Volk gestaltet. Demnach wird neben der Arbeit und den Produktionsmitteln auch die Kunst nach dem Geimeinwohlgedanken ausgestaltet. So war es das Ziel der Künstlerinnen Modelle zu entwickeln, welche die Vision einer sozialistischen, modernen und industriellen Zukunft Russlands beziehungsweise der Welt veranschaulichten. Vor dem Hintergrund dieser Motivation wurden Raum, Formen und Materialien miteinander kombiniert und in Zusammenhang gesetzt. Die ornamental geprägte Kunst der zaristischen Ära, die nur um der Schönheit Willen produziert wurde galt als abgehoben, sinnlos und ein Zeichen des egoistischen Überflusses der herrschenden Klasse, sprich der Bourgeoisie. Somit stand der russische Konstruktivismus ganz in der Pflicht der durch die Bolschewiki angestrebten politischen und gesellschaftlichen Transformation. Er stellte regelrecht den künstlerischen Arm der Revolution dar.
So wurden unter anderem viele der damaligen Propagandaplakate im Stil der avantgardistischen Kunstrichtung geschaffen. Die Hauptwerke der Künstler dieser Ära lagen jedoch eher im Bereich der architektonischen Theorie und Vision. Das wohl prominenteste Beispiel hierfür ist ein Modell des Künstlers Vladimir Tatlin. Dieser entwarf einen Turm welcher als Konferenzraum und Propagandazentrum für die Kommunistische Dritte Internationale, sprich der Komintern dienen sollte. Sein stählernes Spiralgerüst sollte eine Höhe von 396Meter erreichen, was ihn zum damals höchsten Bauwerk der Welt gemacht hätte – höher und funktioneller als den Eiffelturm. Die Konstruktion sollte im Wesentlichen aus Stahl und Glas bestehen und Industrie, Technologie, das Maschinenzeitalter und die Dynamik der Moderne symbolisieren. Obwohl das bolschewistische Regime großen Gefallen an diesem Modell fand wurde es nie verwirklicht. Infolgedessen wurde es zu einem Sinnbild für die gescheiterten Aspirationen und Ziele des sowjetischen Konstruktivismus.
Im Laufe der Zwanzigerjahre wurde das totalitäre sowjetische Regime immer misstrauischer gegenüber jedweder revolutionären oder avantgardistischen Kunst und fasste somit schließlich selbst die „eigenen“ Künstler ins Fadenkreuz. Das autoritäre Regime und die revolutionären Künstler, die eher demokratische Visionen hegten, drifteten immer weiter auseinander. Letztendlich wurden mit dem Tod Lenins und der Machtübernahme Stalins und den damit verbundenen Transformationen auch der schleichende Tod des sowjetischen Konstruktivismus eingeleitet. Bereits nach konstruktivistischer Architektur errichtete Gebäude wurden nun mit ornamentalen Zügen versehen, was sie „verschnörkelter“ aussehen ließ und sie damit letztendlich von den essenziellen Vorstellungen der Simplizität und Bodenständigkeit der Künstlerinnen entfremdete. In den Dreißigerjahren wurde der Konstruktivismus dann vom Realismus als die Kunstform des Staates abgelöst. Das Regime war der Auffassung, dass diese Stilrichtung besser als Propagandainstrument nutzbar war, da sie eingängiger, leichter verständlich und somit einem größeren Teil des Volkes zugänglich war. Auch in der Architektur setzte sich unter Stalin eine Form des Klassizismus gegen den Konstruktivismus durch, der überall im sowjetischen Raum das Aussehen der staatlichen Gebäude prägte. So zum Beispiel auch das pompöse Gebäude der Staatlichen Universität Moskau.
Doch auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag als wäre der Konstruktivismus gescheitert, ist dies keineswegs der Fall. Auch wenn die utopischen Ideale, welche diese Kunstrichtung verkörpert nie erreicht wurden, so haben sie doch die moderne Auffassung von Kunst und die Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts spürbar geprägt. So gaben einige konstruktivistische Künstler Unterricht an der legendären Bauhaus-Kunstschule und prägten ihren Stil maßgeblich. Darüber hinaus setzten sich viele von der russischen Avantgardebewegung beeinflussten internationalen Bewegungen mit der Idee der Kunst als Objekt auseinander und verwendeten neue Materialien, um Fortschritte in Technologie und Industrie hervorzuheben und verankerten so die Ideen des Konstruktivismus als Bestandteil ihres künstlerischen Schaffens, welches sich dadurch heute auf der ganzen Welt in Kunst und Architektur wiederfinden lässt.