Elektronische Musik, Klassik und Moderne Kunst in Russlands kultureller Hauptstadt St. Petersburg – Ein Interview mit Classic Electric
Elektronische Musik, Klassik und Moderne Kunst in Russlands kultureller Hauptstadt St. Petersburg – Ein Interview mit Classic Electric
von Emil Herrmann
„Elektro und Klassik passen nicht zusammen“, denkt Ihr? Classic Electric ist eine Künstlergruppe, die Euch vom Gegenteil überzeugt. Mit einer innovativen und durchdachten Art kombinieren die St. Petersburger klassische und elektronische Musik und begleiten diese mit weiteren visuellen Elementen wie Tanz- und Videokunst. Im Interview sprechen wir mit den Gruppenmitgliedern Olga Malzewa und Ivan Kharlamov unter anderem über die Entstehung von Classic Electric, den Reiz am Mischen der Genres, die Ziele der Gruppe und was das alles mit Wagners Konzept des „Gesamtkunstwerks“ zu tun hat. Des Weiteren erzählen Olga und Ivan von der Lage der Kunst und Kultur in Russland, das Verhältnis von akademischer und moderner Kunst an russischen Universitäten und den kulturellen Freiräumen in ihrer Stadt.
Kulturportal Russland: Herzlich willkommen zum Interview, stellt Euch doch einmal kurz vor!
Ivan Kharlamov: Ich zog bereits vor sieben Jahren aus einer kleinen Stadt nach St. Petersburg. Vor einem Jahr wurde ich dann Teil von Classic Electric. Ich fing gerade als Musiker an, als mir mein Freund, Georgiy Fedorov, der auch Komponist bei Classic Electric ist, erzählte: „Hey, da gibt es dieses spezielle Projekt, bei dem ein paar Leute klassische mit elektronischer Musik vermischen.“ Ich wusste direkt, dass ich da mitmachen will. Und da mein Haus vollgestopft ist mit Synthesizern, wurde ich der „Elektro-Typ“. Georgiy und ich fingen an seine Musik zu neu zu arrangieren und sie zu mixen. So wurde ich zum Sound Engineer von Classic Electric.
Olga Malzewa: Ich bin Studentin an der St. Petersburger Akademie für Performance-Kunst. Als ich dort anfing zu studieren fiel es mir schwer eine Verbindung zur klassischen russischen Kunst herzustellen, mit der wir uns dort auseinandersetzten. Damit war ich nicht alleine. Mit Studierenden, den es ähnlich ging wie mir rief ich eine Projektgruppe ins Leben. Wir nannten sie „Богемный движ/ Bogemniy Dvizh“. Sie bestand aus Studierenden verschiedener kultureller Universitäten. Unser Ziel in der Gruppe war es eine Art Selbsthilfe für uns zu schaffen. Wir wollten eine Plattform für junge Künstlerinnen und Künstler schaffen, auf der es keine staatlichen bzw. universitären Einschränkungen gibt, denn an unseren Universitäten gibt es keinen Freiraum für moderne Kunst, im Speziellen für moderne Komponistenkunst. Im Endeffekt funktionierte „Богемный движ/ Bogemniy Dvizh“ als eine Art Sprungbrett für viele weitere Projekte seiner Mitglieder. So auch für Classic Electric, dass durch die Idee unseres letzten „Musical Creator“ Ilya Domnin, elektronische und klassische Musik zu mischen, entstand. Wir fingen an mit einem Team aus zehn Komponisten elektronischer und ebenso vieler klassischer Komponisten ein Stück zu kreieren, in dem man beide Musikstile klar erkennt. So entstand Classic Electric.
Kulturportal Russland: Was war die Motivation hinter der Idee klassische und elektronische Musik zu vermischen?
Olga Malzewa: Mit Classic Electric wollten wir zeigen, dass elektronische Musik, auch als ein Teil „echter“ Musik anerkannt werden sollte. Dass sie zur selben musikalischen Welt gehört wie auch die klassische Musik. Wir wollten zeigen, dass die beiden Genres zusammen funktionieren und auch zusammengehören. In anderen Ländern existiert elektronische Musik schon länger auch im akademischen Rahmen, in Russland jedoch noch nicht.
Kulturportal Russland: Also versucht Ihr etwas zu schaffen, das die staatlichen Institutionen bisher verfehlt haben?
Olga Malzewa: Ja, denn dies ist ein Problem in Russland. Wir wissen selbstverständlich auch, dass wir das alleine mit unserem Projekt nicht schaffen können, doch wir versuchen ein Teil der Lösung zu sein. An dieser Stelle ist es mir außerdem wichtig zu erwähnen, dass wir natürlich nicht die ersten waren, die diese Idee von der Vermischung der Genres hatten.
Kulturportal Russland: Was macht das Mischen der beiden Genres so interessant für Euch? Und was sind die Herausforderungen die dabei entstehen?
Ivan Kharlamov: Meiner Meinung nach ist das Kombinieren von Kunst eine Art, neue Kunst entstehen zu lassen, musikalische Genres werden immer auf diese Art und Weise kreiert. Man analysiert die Musik und anschließend vermischt man sie und arrangiert sie neu.
Viele Menschen fühlen und erleben elektronische und klassische Musik sehr unterschiedlich. Das macht es für die Komponisten der beiden Genres oft sehr schwierig eine gemeinsame „Sprache“ zu finden. Diese Schwierigkeit entsteht außerdem daraus, dass sie grundlegend unterschiedliche Methoden verwenden um Musik zu kreieren. Klassische Musiker und Komponisten kennen musiktheoretische Regeln, da seine eine spezielle Ausbildung haben. Leute, die elektronische Musik produzieren, tun dies meist zu Hause, ohne eine Anleitung von Dritten und selbstverständlich auch ohne musiktheoretische Ausbildung. Diese Unterschiede machen es sehr interessant zu sehen, wie sie einen gemeinsamen Weg zu kommunizieren, sprich eine gemeinsame Sprache finden. Es ist auch immer wieder interessant das Ergebnis ihres gemeinsamen Schaffens zu hören und Stellen zu finden, die man als die Ideen klassischer oder elektronischer Komponisten identifizieren kann.
Kulturportal Russland: Die beiden Genres zu vermischen stellt einen klaren Bruch mit Konventionen dar. Ist das Brechen von Konventionen eines Eurer Ziele?
Ivan Kharlamov: Ich denke Konventionen zu brechen ist ein wenig „overhyped“ (Anm. d. Red.: zu beliebt, überbewertet). Selbstverständlich brechen wir Konventionen, doch wir tun es nicht nur um es getan zu haben. Das ist nur eine Begleiterscheinung von unserem Schaffen und generell einfach die Art und Weise wie neue Kunst entsteht.
Olga Malzewa: Ja, da stimme ich Ivan zu. Des Weiteren denke ich, dass man mit dem Brechen von Konventionen sehr vorsichtig sein sollte. Damit meine ich, dass man die Konvention, die man brechen will zuerst einmal verstehen muss. Sonst könnte es nicht funktionieren.
Ivan Kharlamov: Genau, keine Ablehnung ohne Verständnis.
Kulturportal Russland: Was Ihr produziert scheint sehr durchdacht. Bezieht Ihr mit Classic Electric irgendwelche Positionen oder transportiert eine Botschaft?
Olga Malzewa: Die Botschaft, die ich persönlich mit Classic Electric vermitteln will ist, dass wir anfangen sollten über die Art und Wiese nachzudenken, wie wir in Russland Kunst und Kultur produzieren und präsentieren. Denn von der älteren Generation geht für die jüngere keine Inspiration mehr aus. Sie lässt sich nicht mehr durch klassische Kunst inspirieren, wie es die alte Generation tat. Mit unserem Ansatz versuchen wir das zu ändern – möglicherweise einen neuen Zugang zu schaffen.
Ein anderes, die Gruppe übergreifendes Anliegen von uns ist es, dass wir uns in der Produktion unserer Stücke grundsätzlich am Konzept des „Gesamtkunstwerks“ nach Richard Wagner orientieren. Wagner spricht in seinen Texten immer wieder von der Notwendigkeit, als ein Organismus zu funktionieren. Nach unserer Interpretation bedeutet das, dass wir zusammenarbeiten und Kunst nicht als ein Instrument nur für uns selbst sehen sollten. Wir sind überzeugt davon, dass Kunst den Zweck haben sollte Menschen zu verbinden. Ich denke, so wie Wagner es in seiner Idee des „Gesamtkunstwerk“ formuliert hat, dass Kunst eine Art Wiedergeburt oder Erleuchtung in Menschen auslösen kann. Sie kann ihnen helfen, sich zu besinnen und ihre eigentlichen Bedürfnisse und Wünsche wiederzuerkennen, die über die Zeit hinweg durch historische, kulturelle, politische und soziale Prozesse und Einflüsse verkannt wurden. Damit meine ich insbesondere das Bedürfnis sich zu vereinen und friedlich miteinander zu leben. Ich finde unser Projekt symbolisiert das sehr gut, denn im Produzieren unserer Aufführungen und auch der Arbeit auf der Bühne findet eine Art Synthese in unserem Kollektiv und unserer Gemeinschaft statt.
Kulturportal Russland: Okay, nun werde ich Euch ein paar Dinge zum Thema Kunst und Kultur in Russland und St. Petersburg fragen. Zunächst einmal wäre es interessant zu wissen, ob ihr St. Petersburg aufgrund seiner reichen kulturellen Historie als einen typischen Entstehungsort für ein Projekt wie Classic Electric seht.
Olga Malzewa: Ja, definitiv. Doch mir scheint es wichtig zu erwähnen, dass ältere Städte wie Pskov oder Novgorod auch eine große Rolle in der Entwicklung russischer Kultur spielten. Das ist wichtig zu wissen. Gerade für russische Künstler, denn die nationale Kunst ist stark verbunden mit der nationalen Geschichte und der sozialen Organisation. Und auch heute gibt es Städte und Regionen neben St. Petersburg in denen sehr viel Kultur entsteht, doch viele Russen kennen diese Kunst nicht. Deshalb entsteht dieses verzerrte Bild davon, dass in Russland Kultur und Kunst einzig und allein in St. Petersburg und Moskau entsteht. Natürlich sind St. Petersburg und Moskau Städte in denen man als Künstler wachsen und sich etablieren kann, entstehen kann die Kunst jedoch auch anderswo. Aus Igevsk kommen beispielsweise viele Grafikdesigner nach St. Petersburg.
Kulturportal Russland: St. Petersburg scheint wegen der vielen Künstler auch eine Stadt der Bohème zu sein. Kann man das so sagen?
Ivan Kharlamov: Ja, sie hat auf jeden Fall in ganz Russland diesen Ruf. Der Klischée-Petersburger trinkt billigen Wein und hört den ganzen Tag „Splean“. Es ist zwar ein Stereotyp, doch darin steckt tatsächlich ein wahrer Kern. Viele junge Menschen kommen in die Stadt, bewegen sich in alternativen Kreisen und studieren etwas wie Philosophie oder Literatur oder etwas Anderes, was keine großen finanziellen Aussichten verspricht. Ich denke das ist schon etwas Bohème.
Kulturportal Russland: Wo gibt es diese alternativen Kreise oder Räume in denen Kultur in St. Petersburg entsteht? Und wer konsumiert sie?
Olga Malzewa: Das hängt davon ab von welcher Art Kultur wir reden. Es gibt einige Orte in der Stadt, die sehr klein sind aber eine wichtige Rolle in der Entwicklung des russischen „Underground“ während der Perestroika spielten und das auch gegenwärtig noch tun. „Puschkinskaya 10“ ist einer davon. Es ist eine Non-Profit Organisation und ein Kulturzentrum für moderne Kunst, welches 1989 gegründet wurde. Dort gibt es eine John-Lennon-Straße und auch die „Galerie für Experimentellen Klang – GES-21“, welche gerade für Classic Electric sehr wichtig ist. Des Weiteren finden dort auch immer wieder Kunst-Workshops statt.
Dann gibt es da noch das Alexandrinsky Theater. Dort gibt es eine Bühne für moderne Kunst. Auch wenn nicht alles was dort aufgeführt wird wirklich als moderne Kunst definiert werden kann, bietet diese Bühne doch einen Ort für Kollektive um sich auszuprobieren. Auch wenn sie dort unter strengen Auflagen arbeiten.
In staatlichen Theatern werden normalerweise nur klassische Stücke aufgeführt. Das Publikum, das dorthin geht will verstehen was ihm präsentiert wird. Doch am Lensoviet Theater beispielsweise hat der ehemalige Direktor das herausgefordert indem er klassischen russische und europäische Stücke nahm und sie in modernen Interpretationen aufführen ließ. Die Leute, die sich das anschauten waren jünger als gewöhnlich. Viele von ihnen waren Studierende im Alter von 18 bis 35 Jahren.
Neben diesen kulturellen Freiräumen gibt es viele kleine, junge Kollektive, die meist nicht lange existieren aber als Ort der Inspiration und der Entwicklung von Ideen dienen können.
Kulturportal Russland: Seht ihr Classic Electric als Teil dieser kulturellen Szene St. Petersburg oder mehr als ein eigenständiges Projekt?
Ivan Kharlamov: Definitiv merken wir, wie wir zunehmend in die Kulturszene eingebettet werden. Je länger man aktiv ist, desto mehr andere Akteure trifft man, desto bekannter wird man und desto mehr Leute gibt es, die mit einem interagieren wollen.
Kulturportal Russland: Classic Electric ist etwas Unkonventionelles. Würdet ihr soweit gehen euer Projekt als Gegenkultur zu bezeichnen?
Ivan Kharlamov: Nein, in Russland gibt es meiner Meinung nach derzeit nur eine Gruppe die man als wirkliche „Gegenkultur“ bezeichnen kann und das ist die Musikgruppe „Shortparis“. Sie sind wie „Aukzion“ in den 80ern. Sie [Aukzion] wurden damals bei einem Auftritt in einer Fernsehshow von Publikum gefragt, ob sie nicht denken, dass sie für das was sie tun eingesperrt werden. So sind wir nicht. Classic Electric ist keine Gegenkultur. Wir sind alternative Kultur. Ich denke das kann man sagen. Wir versuchen nicht gegen die bestehende Kultur zu arbeiten, sondern sie zu erweitern.
Kulturportal Russland: Meine letzten Fragen sind für diese Zeit sehr typische Fragen, die ich Euch dennoch stellen will: Wie erlebt Ihr die Corona-Krise? Was plant Ihr für die Zeit nach Corona? Wie sieht die Zukunft für Classic Electric aus?
Olga Malzewa: Wenn alles so läuft, wie wir es uns erhoffen, werden wir im Herbst ein Konzert veranstalten, auf dem wir einen Chor mit in die Aufführung einbinden werden. Und ich denke was die Form von Classic Electric an sich angeht, werden wir in Zukunft mehr verschiedene Kunstformen miteinbeziehen. Wir denken da an Ballett, klassischen Tanz aber auch Bauchtanz.
Ivan Kharlamov: Ich erlebe die Corona-Krise als sehr problematisch für unsere Gruppe. Unter anderem der Austausch von Ideen leidet sehr. Wir können nicht mehr einfach in ein Café gehen und über unsere Einfälle sprechen. Das hemmt den kreativen Flow immens. Auf der anderen Seite sehe ich viele neue Möglichkeiten, die sich uns eröffnen. Vielleicht werden wir einen Podcast oder andere Online-Formate produzieren. Wir versuchen das Gute im Schlechten zu sehen und die Situation bestmöglich zu nutzen.
Interview vom 24.04.2020
Ein Konzert der Gruppe in voller Länge