Über “Die Küste Utopias” und was wir heute von den russischen revolutionären Schriftstellern lernen können
Über “Die Küste Utopias” von Sir Tom Stoppart und was wir heute von den russischen revolutionären Schriftstellern wie Bakunin und Herzen lernen können
Am 08. Mai 2022 werden erstmalig alle drei Stücke von “Die Küste Utopias” von Sir Tom Stoppart an einem Tag aufgeführt. Das Staatstheater Wiesbaden hat den Dreiteiler des englischen Autors bereits seit zwei Jahren im Programm. Durch die Einschränkungen während der Corona-Pandemie gab es immer wieder Unterbrechungen im Probenablauf. Das war teilweise auch Glück im Unglück, denn so konnten sich die Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles intensiv mit der Geschichte der russischen revolutionären Schriftsteller des letzten Jahrhunderts auseinander setzen.
Welche Schwierigkeiten während der Proben aufgetreten sind, wie das Ensemble an dem Stück gewachsen ist und was es bedeutet, russische Kultur und Literatur nicht vom Spielplan zu streichen – darüber hat Kulturportal Russland mit der Dramaturgin des Staatstheaters Wiesbaden, Marie Johannsen, gesprochen.
Wie ist die Idee entstanden das Stück von Sir Tom Stoppart “Die Küste Utopias” im Staatstheater Wiesbaden auf die Bühne zu bringen?
Es ist tatsächlich die erste deutsche Aufführung von der “Küste Utopias”, 20 Jahre nach der Uraufführung in London. Das Stück wurde damals auch als Gesamtaufführung mehr als 120 Mal mit einer berühmten Besetzung aufgeführt. Weil das Stück so komplex ist, hat sich in Deutschland bisher kein einziges Theater an dieses Stück ran getraut- obwohl Sir Tom Stoppart auch hier ein viel gelesener Autor ist. Vor fünf Jahren hat dann meine Vorgängerin das erste Mal mit dem Verlag über das Stück gesprochen. Der Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Uwe Eric Laufenberg, ist für seine großen Inszenierungen bekannt und war mutig genug „Die Küste Utopias“ nach Wiesbaden zu holen.
Warum lag besonders dieses Stück über die revolutionären Schriftsteller Russlands so lange in der Schublade verborgen, ist doch das Thema bis heute aktuell?
Weil dieses Stück ein logistischer Großaufwand für die gesamte Produktion bedeutet. Es sind insgesamt ca. 80 Rollen mit ca. 18 Schauspieler:innen zu besetzen, es sind unglaublich viele Orte und Ortswechsel, die es zu erzählen gilt. Das bedeutet auch ein sehr komplexes Bühnenbild und auch für die Technik ist eine große Herausforderung. Der Verlag stellt zusätzlich die Bedingung, dass das dreiteilige Stück nur in der Originalfassung gespielt werden darf. Heißt also, dass die Ensembles die Stücke nicht kürzen dürfen und so mit einer Gesamtlänge von gut 9 Stunden rechnen müssen. Das schreckt viele ab.
Wie war die Vorbereitung auf das Stück?
Das Stück ist so komplex, dass wir zunächst drei Monate gebraucht haben, die Rollen zu besetzen. Man muss da genau überlegen, welcher Schauspieler zum Beispiel im ersten Teil “Aufbruch” eine kleine Rolle übernehmen und dann im zweiten Teil “Schiffbruch” eine fortlaufende größere Rolle spielen kann, um dann in Teil drei “Bergung” eine kleinere Rolle zu besetzen. Es hat schon mit viel Mut zu tun, dieses Stück aufzuführen. Ich bin gespannt, ob sich dem noch andere deutsche Theater annehmen werden.
Wie lange hat die Vorbereitungszeit gedauert?
Wir haben sicher ein bis ein anderthalb Jahre für die Vorbereitung gebraucht. Zufällig fiel dann der Probenstart auf Mai 2020, das heißt wir kamen aus diesem ersten Lockdown. Während andere Theater Monologe auf die Bühne gebracht haben, wollten wir uns dennoch diesem großen Werk widmen. Da es noch keine Probenregelungen für die Theater gab, war das anfangs sehr kompliziert.
Durch die Corona bedingten Pausen hatten wir immer wieder tolle Möglichkeiten mit den Schauspielern in intensive Probenzeiten zu gehen. Beispielsweise haben wir uns mit den Schauspielern die Bakunin und Herzen spielen, im Park getroffen und haben mit ihnen die Originaltexte der russischen Schriftsteller gelesen. Dabei sind interessante inhaltliche Gespräche entstanden und die Rollen wurden klarer. In diesem Prozess haben wir alle sehr viel über die Ideen dieser damals sehr jungen Männer gelernt. Die waren ja teilweise 17 oder 18 als die sich mit ihren Texten beispielsweise für das Ende der Leibeigenschaft in Russland positionierten. Das Ensemble hatte Zeit, sich mit diesen teilweise hochphilosophischen Texten auseinanderzusetzen. Das war unserer Arbeit sehr zuträglich.
Haben sich in der Vorbereitung auch neue Horizonte für Sie aufgetan?
Meine Kollegin Anika Bárdos und ich haben zu jeder Figur recherchiert. Interessant ist ja, dass wirklich alle Rollen in diesem Stück historisch belegbar sind. Mich hat zum Beispiel die Biografie der Emma Herwegh total fasziniert. Sie tritt im zweiten Teil als Frau von Georg Herwegh, einem deutschen Revolutionsdichter, in Erscheinung. Zu dieser spannenden Frau hätte ich gerne noch mehr gelesen, aber da fehlt einem dann die Zeit, wenn man über 80 Personen recherchieren muss.
Dann sind Sie in diesem Prozess ja auch ganz tief in die russische Revolutionsliteratur des vergangenen Jahrhunderts eingetaucht.
Ja total. Das hat mich total begeistert. Über manche Personen lässt sich wirklich wenig finden, da muss man sehr genau forschen. Manchmal ist es auch schwierig, wenn die Namen zu Spitznamen werden. Das war schon fast wie Detektivarbeit, die Personen so auseinander zu sortieren und zu verstehen, wer wer in welcher Zeit ist.
Besteht darin auch Ihre Aufgabe als Dramaturgin, das Ensemble mit den unterschiedlichen Hintergrundinformationen zu versorgen?
Zum einen ist das ein großer Teil meiner Arbeit. Zum anderen ist es auch die Zusammenarbeit mit der Regisseurin, bei der man mit ihr gemeinsam ein Inszenierungskonzept entwickelt. Es ist aber auch so, dass man während der Produktion immer wieder gucken muss, nicht in Logikfallen zu tappen. Am Anfang dachten wir zum Beispiel, es ist gut, wenn wir uns nicht zu sehr in der russischen Geschichte versteifen und dann merkt man im Prozess der Proben, dass man doch nochmal genau nachlesen muss, was der Dekabristenaufstand war und welche politischen Auswirkungen er hatte. Das Wissen darüber macht es dann einfacher zu verstehen, welche Auswirkungen dieser auf die einzelnen Figuren im Stück hatte und was das für ein wichtiger Umschwung in der Geschichte sowie der Biografien war. Da komme ich dann ins Spiel, immer wieder Informationen zu liefern und Kontext zu schaffen.
Ich bin auch dafür zuständig, offene Fragen der Schauspieler:innen sowie der Regie zu klären. Es ist auch immer ein bisschen mit Motivationsarbeit verbunden, damit sich die Stimmung bei allen hält bei so einem großen Projekt.
Wurden bereits alle drei Teile aufgeführt?
Wir haben bereits alle drei Teile einzeln aufgeführt Aber alle drei Stücke an einem Tag aufzuführen, das haben wir bisher noch nicht gemacht. Das ist eine große Herausforderung vor allem für die Schauspielerinnen und Schauspieler sowie die Technik und Kostüm. Die Stücke dauern je ca. 3- dreieinhalb Stunden. Alle sind derzeit noch sehr aufgeregt, weil niemand so recht weiß wie das an einem Tag zu schaffen ist.
Hat es nach den Aufführungen bestimmte Reaktionen aus der Öffentlichkeit gegeben?
Viele sind in das Stück gegangen und haben etwas hochphilosophisches erwartet. Dadurch das Stoppart sehr verständlich und nicht belehrend schreibt, hat auch das Publikum einen sehr leichten Zugang zu dem Stück und den Figuren- das hat denke ich viele überrascht.
Die gesamte Geschichte bleibt sehr nah an den Persönlichkeiten, somit kann man dem Geschehen viel besser folgen und kann dennoch einiges über russische Geschichte und Philosophie lernen. Es erklärt die Entstehung der Revolution, vor allem auf gedanklicher Ebene. Viele Zuschauer:innen sind häufiger in die Aufführungen gekommen. Jedes Mal lernt man ein neues Detail kennen und das macht Spaß.
Sind Sie auch in die Entstehungsgeschichte des Stücks eingestiegen?
Ursprünglich war das eine Auftragsarbeit eines Londoner Theaters. Nachdem Stoppart dafür angefangen hatte zu recherchieren, landete er bei den verschiedensten historischen Persönlichkeiten, die alle unmittelbar miteinander verknüpft sind. Daraufhin hatte er beschlossen, drei statt nur ein Stück zu schreiben.
Nach der Londoner Uraufführung hat Stoppart dann auch den Proben in New York beigewohnt. Bei den Proben dort hat er das Stück weiter bearbeitet und sehr eng begleitet. Wolf Christian Schröder hat das Stück dann in enger Zusammenarbeit mit Stoppart 2007/2008 auf Deutsch übersetzt.
Für den Autoren selbst ist „Die Küste Utopias“ ein unglaublich wichtiges Projekt. Wir stehen eng mit ihm in Kontakt und er freut sich sehr, dass das Stück nochmal auf die Bühne gebracht wird.
In Anlehnung an das Stück aber auch mit Blick auf die russische Geschichte, was meinen Sie, ist das Thema des Stücks nach wie vor aktuell?
Es ist ja aus dem Gedanken entstanden die Leibeigenschaft abzuschaffen. Sich gegen die Herrschaft des Zarentums zu stellen und eine freiheitliche Gesellschaft zu fordern. Dabei geht es auch um Bildung, dass Bildung auch Freiheit schafft und ein sehr wichtiger Weg ist hin zu einer weltoffenen Gesellschaft. Der Wunsch sich mit anderen Denkern und Philosophen zu vernetzen, war eng damit verknüpft, reisen zu wollen und dadurch neue Gedanken von anderen Menschen kennenzulernen. Ganz wichtig waren in der Zeit auch Übersetzungen und die Erkenntnisse daraus. Nur so kannten die Gedanken von Hegel, Fichte und Co außerhalb des deutschsprachigen Raums zugänglich gemacht werden. Ich finde, darum geht es heute auch immer noch. Man kann nur über die Welt lernen, wenn man über die eigenen Grenzen hinweg schaut, neue Menschen trifft und sich mit neuen Themen auseinander setzt und eben auch sich zu begegnen.
Gab es in der Umsetzung Schwierigkeiten, weil Sie in dieser Zeit des Krieges ein Stück über die russische Geschichte zeigen?
Wir haben das Stück ja schon etwas länger auf dem Spielplan – und bisher ist es trotz pandemiebedingter Platzkapazitätseinschränkungen gut gelaufen. Doch tatsächlich ist es aktuell gar nicht so einfach, Karten für das Stück zu verkaufen – zugegeben: die Resonanz ist derzeit eher verhalten. Dabei ist es gerade jetzt so wichtig, dieses Stück zu zeigen und nicht die russische Kultur und Geschichte komplett zu boykottieren. Die Geschichte hat irrsinnig viel mit dem zu tun, wie wir heute leben. Im Stück gibt es eine klare Botschaft gegen Krieg und für ein gemeinsames Europa. Ich denke es ist trotz aller politischen Sanktionen wichtig, nicht einfach alle Brücken abzubrechen. Insbesondere die kulturellen Brücken. Das ist noch nie gut gegangen. Das im Stück behandelte Thema des Lebens im Exil und die freie Äußerung von Meinungen ist hochaktuell : Viele russische Schriftsteller sind derzeit wieder im Exil und es finden sich durchaus Parallelen unserer aktuellen Zeitgeschichte zu den historischen Figuren im Stück.
Welche Botschaft nehmen Sie aus “Die Küste Utopias” mit?
Vielleicht sind es zwei Dinge: Einmal, dass man Menschen nicht nur in politisch konnotierte Schubladen stecken sollte, sondern dass man sie auch immer als Menschen sieht. In der „Küste Utopias“ hat sogar Bakunin, der Begründer der Anarchie, Liebeskummer und Geldsorgen. Außerdem finde ich den Wunsch des Weiterlernen-Wollens essentiell; dass man eben nicht glaubt, man kenne schon die ganze Wahrheit, sondern sich immer wieder in den Austausch mit anderen Menschen begibt und dadurch immer wieder neue Gedanken über die Welt und das Leben Platz haben können.