Wie steht es um Udmurten in Udmurtien?
Wie steht es um Udmurten in Udmurtien?
Am 10. September 2019 verbrennt sich der udmurtische Sozialaktivist Albert Razin, um auf den langsamen aber unaufhaltsamen Verfall von Kultur und Sprache der Udmurten in Russland aufmerksam zu machen.
19.11.2019, von Sergei Zubeerov
Was ist passiert?
Am 10. September 2019 setzte sich in Ischewsk der udmurtische Wissenschaftler und Sozialaktivist Albert Razin in der Nähe des Parlamentsgebäudes der Republik Udmurtien in Brand. Weder seine Familie, noch seine Kollegen hatten etwas von seinem Vorhaben geahnt – Razin bereitete seine Tat von langer Hand vor und bewahrte stoische Ruhe im Umgang mit seinem sozialen Umfeld.
Am selben Tag, kurz vor seiner Selbstverbrennung, hielt der 79-Jährige einen „einsamen“ Streik gegen die seiner Meinung nach verfassungswidrige Vernachlässigung der udmurtischen Sprache. Bei sich hatte er zwei große Kartonschilder. Auf dem einen stand: „Habe ich eine Heimat?“ und auf dem anderen war ein Zitat aus einem Gedicht von Rassul Gamsatow zu lesen: „Und wenn meine Sprache morgen verschwindet, so bin ich schon heute zu sterben bereit.“ Im Internet kursiert ein Video der Verbrennung: Es ist ein sonniger Tag, auf einem menschenleeren Platz wird die Figur eines Mannes von Flammen verzehrt, schwarzer Rauch steigt empor. Die zwei Kartonschilder stehen daneben an eine Wand gelehnt. Albert Razin starb kurz darauf an seinen Verletzungen.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion engagierte sich Razin, der das russische Äquivalent eines Doktors der Philosophie und eine der höchsten Regierungsauszeichnungen für Forscher in Udmurtien besaß, für die Erhaltung der udmurtischen Sprache und Kultur.
Diejenigen, die Razin persönlich kannten, bezeichneten seine Selbstverbrennung als eine Art Ultima Ratio, nachdem regionale Ministerien ihm wiederholt die kalte Schulter gezeigt hatten.
Was waren die Forderungen Razins?
Razins Selbstverbrennung hat die udmurtische Gemeinschaft in Schock versetzt. Viele fragen sich, was den Wissenschaftler zu einem derart verzweifelten Akt trieb. Für einige ist er schlicht ein Verrückter, andere sehen in seiner Tat den Ausdruck des Schmerzes vieler Menschen angesichts einer traurigen Sachlage im modernen Russland: Die unzähligen Ethnien mit ihrer einmaligen Kultur werden allmählich russifiziert, verlieren ihre Sprache und verschwinden.
Bevor Razin sich vor dem regionalen Parlament anzündete, wurde er von seinem Mitstreiter Andrej Perewostschikow interviewt. In der Video-Aufnahme argumentiert Razin folgendermaßen: „wenn schon Pflanzen und Tiere ins Rote Buch [Rote Liste gefährdeter Arten, Anm. der Redaktion] eingetragen sind, gibt es umso mehr Grund, auch Ethnien zu schützen.“
Der gebürtige Udmurte Razin warf den regionalen Abgeordneten vor, dass sie nichts für die Erhaltung der udmurtischen Sprache unternehmen würden. Außerdem rief er zur Entwicklung eines Programms für die Rettung der udmurtischen Kultur auf. In einem 8-seitigen offenen Brief an Vertreter der Republik schlägt er unter anderem folgende Maßnahmen vor: In Kindergärten in den udmurtischen Dörfern soll Udmurtisch gesprochen werden und in allen anderen Kindergärten und Schulen der Republik sollen Kinder aller ethnischen Gruppen Udmurtisch lernen. Die lokalen Beamten müssen über Udmurtischkenntnisse verfügen. Ferner sollen Kultus- und Bildungsminister Udmurten sein, traditionelle udmurtische Ornamente zur Dekoration der Stadt verwendet und Straßenschilder sowohl auf Russisch als auch auf Udmurtisch beschriftet werden.
Mit seinen Forderungen berief sich Razin auf die russische Verfassung, in der steht: „Jeder hat das Recht, seine Muttersprache zu verwenden und die Sprache der Kommunikation, der Erziehung, der Bildung und der kreativen Arbeit frei zu wählen“ (Artikel 26). Und wichtiger noch: „Die Russische Föderation garantiert allen ihren Völkern das Recht auf Erhalt ihrer Muttersprache sowie die Schaffung von Bedingungen für deren Erlernen und deren Entwicklung“ (Artikel 68).
Wie wohl fühlen sich Udmurten in Udmurtien?
Am 20. September veröffentlichte BBC Russian Service einen Artikel mit dem Titel: „Hier gibt’s keinen Grund Udmurtisch zu reden“. Was hat den Tod des Ischewsker Wissenschaftlers Albert Razin verursacht?
In dem Artikel werden einige lokale Beamte sowie Befürworter und Gegner von Razin interviewt, unter anderem der Publizist Sergej Schtschukin, ein ehemaliger Abgeordneter, der Razin persönlich kannte und seinen Ideen skeptisch gegenüber steht. Schtschukin argumentiert, dass aufgrund der Dörflichkeit der udmurtischen Kultur sich diese in das moderne städtische Leben nicht integrieren könne.
In der Tat wohnen die meisten Udmurten in ländlichen Gegenden und wenn sie in die Stadt ziehen, sind sie gehemmt ihre Nationalität preiszugeben und ihre Sprache zu sprechen. Hinzu kommt, dass von den anderthalb Millionen Einwohnern der Republik nur etwa 30% Udmurten und etwa 60% Russen sind. In der Hauptstadt der Republik sucht man vergebens nach dem udmurtischen Einfluss – Ischewsk ist eine typische sowjetische geradlinige und vorwiegend aus Plattenbauten bestehende Stadt.
Für den udmurtischen Aktivisten Alexej Schklajew ist die kulturelle „Stagnation“ der Udmurten dem Mangel an einflussreichen nationalen Intellektuellen, udmurtischen Institutionen und dem Fehlen einer starken Religion wie dem Islam im benachbarten Tatarstan geschuldet.
Razin selbst sprach vom Gefühl der „Unterlegenheit“, das sich unter Udmurten verbreite und die hohe Selbstmordrate unter Udmurten erkläre. Udmurtien gehört tatsächlich zu den zehn Regionen mit den höchsten Selbstmordraten in Russland. Nichtsdestotrotz enthielten sich alle udmurtischen Gesprächspartner der BBC den Tod Razins als Selbstmord zu bezeichnen und führten als Begründung einen alten udmurtischen Brauch an: Wenn sich ein Udmurte beleidigt fühlt und keinen Einfluss auf die Situation hat, kann er sich am Tor des Hauses seines Feindes aufhängen. Sofi Razina, die Tochter des Verstorbenen, beteuert: „Es war kein Selbstmord. Er liebte das Leben sehr. Er opferte sein Leben für sein Volk.“
Trägt die russische Gesamtsituation die Schuld?
Die lokalen Beamten weisen die Vorwürfe Razins zurück und betonen, dass schon viel geschehen sei, um die udmurtische Sprache „modisch“ zu machen und das Interesse an ihr innerhalb der Bevölkerung zurückzugewinnen. Eins der von den Beamten unterstützten Projekte waren „Buranowskije Babuschki“, die auf Udmurtisch und Englisch singende Musikgruppe mehrerer älterer Frauen, die Russland beim Eurovision Song Contest 2012 vertraten und dort den zweiten Platz belegten. Für Razin greifen solche Maßnahmen zu kurz und können in keiner Weise den Verfall stoppen.
Die Krux dabei: Auch die Udmurten wollen nicht unbedingt, dass die Schulausbildung auf Udmurtisch stattfindet, denn Schüler müssen das sogenannte Einheitliche Staatsexamen (ЕГЭ) in russischer Sprache ablegen, um an einer guten Universität angenommen zu werden und Karriere machen zu können.
Um die Situation besser zu verstehen, hilft es auf die zweitmeistverbreitete Muttersprache in Russland zu schauen: Tatarisch. Gemäß Artikel 68 der Verfassung gibt es sowohl in Tatarstan als auch in Udmurtien zwei Amtssprachen. Im Unterschied zu Udmurtien sind die Tataren in ihrer Region in der Mehrheit: Dort leben ungefähr 53% Tataren und 40% Russen. Aber auch in Tatarstan ist es mit der tatarischen Sprache nicht zum Besten gestellt.
Bis 2017 studierten die Schüler in Tatarstan ungefähr fünf bis sechs Stunden pro Woche Tatarisch als Pflichtfach (in manchen Fällen waren es mehr Stunden als im Russischunterricht), ganz egal, ob dies ihre Muttersprache ist oder nicht. Als Putin 2017 sagte, dass „man Menschen nicht zwingen darf, eine Fremdsprache zu lernen“, wurden seine Worte von den Eltern russischer Kinder in Tatarstan mit viel Enthusiasmus begrüßt.
2017 verbat Moskau das obligatorische Erlernen von Tatarisch. Seitdem befürchten viele, dass es nun auch mit der tatarischen Kultur bergab gehen wird. In manchen Schulen ist mittlerweile fast die Hälfte der Schüler vom Tatarischunterricht abgesprungen.
Die Regierung des größten Landes der Erde mit mehr als 144 Millionen Einwohnern, die über 190 Ethnien darstellen und über 100 Sprachen sprechen, beschließt nun obligatorische Fremdsprachenprüfung im Rahmen des Einheitlichen Staatsexamens ab 2022 einzuführen. Welche Fremdsprachen sind es? Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Chinesisch… Also, darf man Menschen zwingen, eine Fremdsprache zu lernen, oder darf man es nicht? Paradoxerweise nur dann nicht, wenn es um die Vielfalt des eigenen Landes geht.
Zwischen den Herausforderungen der Globalisierung – die meisten russischen Schüler lernen verständlicherweise Englisch als Fremdsprache – und dem in der Verfassung verankerten Imperativ, diese erstaunliche Mannigfaltigkeit aus 100 Sprachen verschiedener Sprachfamilien aufzubewahren, gilt es noch der russischen Regierung, einen Mittelweg zu finden.