„Wir-Мир“ – Deutsch-Russisches Festival des Jugendaustausches
„Wir-Мир“ – Deutsch-Russisches Festival des Jugendaustausches
Um die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland zu stärken, werden regelmäßig sogenannte Kreuzjahre ausgerufen. Das Jahr des Deutsch-Russischen Jugendaustausches 2016/17 ging nun in Berlin zu Ende. Im Rahmen dieses Jahres fanden vielfältige Projekte statt – unter anderem auch das Jugendforum des Deutsch-Russischen Forums e.V. in Krasnodar, zu dem wir hier schon ein Interview veröffentlicht haben. Vom 14. bis 15.07.2017 lud die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch (DRJA) zur Abschlussveranstaltung ein. Bei diesem Festival kamen sich bei verschiedenen Veranstaltungen an unterschiedlichen Orten deutsche und russische Kinder und Jugendliche in entspannter Atmosphäre näher.
18. Juli 2017 , von Viktoria Gonschorek
09:45 Uhr, das Foyer des Russischen Hauses in der Friedrichstraße in Berlin-Mitte füllt sich nach und nach mit aufgeregt auf Deutsch und Russisch durch den Raum rufenden Kindern und Jugendlichen. Sie sind etwa zwischen sechs und 16 Jahren alt und viele tragen die T-Shirts ihrer Schulen oder Abzeichen ihrer Vereine. Um die Wartezeit bis zur Eröffnung um 10:30 Uhr zu verkürzen, gibt es Spielangebote. Sprachanimateure spielen mit den Kindern Landeskunde-Twister und ein Aussprache-Memory.
10:20 Uhr: Grüppchenweise strömen die großen und kleinen Gäste in den Großen Saal des Russischen Hauses. Um halb elf ist der Saal fast lückenlos besetzt. Thomas Hoffmann, der Geschäftsführer der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch, betritt die Bühne, um das Deutsch-Russische Festival des Jugendaustausches zu eröffnen.
Seit 2006 ist die Stiftung in Deutschland die zentrale Koordinierungsstelle für den Jugend- und Schüleraustausch mit Russland. Auf ihrer Homepage präsentieren sie die Statistik zu elf Jahren Tätigkeit: Pro Jahr finden circa 600 Begegnungen mit etwa 15.000 Teilnehmern statt, die von der Stiftung jährlich mit zwei Millionen Euro gefördert werden. Als ihre Hauptaufgabe benennt die Stiftung die finanzielle Förderung von Jugend- und Schülerbegegnungen, außerdem unterstützt sie die Weiterqualifizierung von Lehrkräften, ist Informations- und Beratungsstelle und entwickelt Projekte rund um den Jugendaustausch.
Thomas Hoffmann äußert sich zum Ziel des Festivals: „Wir wollen, dass Jugendaustausch erlebbar wird. Gerade auch für die, die es noch nicht kennen. In der Politik sind die Beziehungen oftmals schwierig, aber wir wollen zeigen, dass deutsch-russischer Austausch positiv und gewinnbringend ist.“
Nach Hoffmann ergreift Dina Sokolowa vom Russischen Koordinierungsbüro für den Jugendaustausch mit Deutschland das Wort: „Das Jahr endet, aber nicht die Freundschaft. Es ist schön, in ein anderes Land zu fahren und dort einen Freund zu haben. Auch wenn das Fernsehen etwas Anderes zeigt, sind wir doch jetzt alle in diesem Raum versammelt und damit das beste Zeichen.“
Beide betonen die Bedeutung internationaler Beziehungen und wie wichtig es ist, gerade in jungen Jahren schon in Kontakt mit einer anderen Kultur zu treten. Dann verlassen sie die Bühne und übergeben das Mikrofon an Mathias Burghardt, der durch diesen Vormittag moderieren wird.
Burghardt ist Länderkoordinator für Russland in Hamburg und hat schon mehrere Jugendaustauschprojekte zwischen Deutschland und Russland betreut. Enthusiastisch begrüßt er das Publikum zweisprachig in Berlin, der „zweiten Hauptstadt Russlands“ und wechselt auch im Folgenden immer wieder zwischen Deutsch und Russisch. Burghardt erzählt von der bereits elf Jahre bestehenden Hamburger Tradition, das „Letzte Schuljahresläuten“ vor den Sommerferien aufzuführen. Dabei handelt es sich um den russischen Brauch, das Ende des Schuljahres symbolisch mit einem Glockenläuten und einem kleinen Rahmenprogramm zu beenden.
Burghardt kündigt den „ersten Letzten Schuljahresabschluss in Berlin“ an. Anlässlich der 60-jährigen Partnerschaft zwischen Hamburg und St. Petersburg trägt die heutige Aufführung den Titel „St. Petersburg: Das Fenster nach Europa“. Dafür angereist sind 50 Tänzerinnen und Tänzer der Tanzbrücke Hamburg e.V. und außerdem die 17 Mitglieder der inklusiven Theatergruppe „Der kleine Prinz“ aus Jakutsk. Jakutsk gilt mit bis zu -60 Grad kalten Wintern als kälteste Großstadt der Welt. Sie liegt im russischen Föderationskreis Fernost am Fluss Lena. Der jahrtausendealte Schamanismus ist in den Köpfen des Volks aus Sibirien immer noch präsent. Dies stellen sie ausdrucksstark bei einem sogenannten Energietanz dar. Klangvoll summt die Leiterin der Jakutsker Theatergruppe des Sacha-Gymnasiums ins Mikrofon, dann fassen sich alle 70 Menschen auf der Bühne an den Händen.
Bei dem Theaterstück wird das Publikum durch die 300-jährige Geschichte St. Petersburg geführt. Peter der Große schaut von der Leinwand auf die Zuschauer herab, dann wird ein Bild der Peter-Pauls-Festung, dem ersten Bau in St. Petersburg an die Wand projiziert. Dazu erzählen die Hamburger Elena und Zoe aus der Historie und leiten zu den jeweiligen Tanzeinlagen über. In bunten, wechselnden Kostümen führen die Tänzer einen Ball bei Katharina der Großen vor, nehmen das Publikum mit auf die romantische Kussbrücke, zur berühmten Waganowa Ballettakademie oder auf ein Volksfest am Hafen. Manche Szenen sind auch nicht klar zuzuordnen, sodass sich das Auge des Betrachters einfach an der Mischung aus Tanz, Theater und Akrobatik erfreuen kann.
Dann die Weltkriege: Das laute Tacken eines Metronoms zertrennt die Stille im Saal, während Schwarz-Weiß-Bilder des zerstörten Petrograd bzw. Leningrad gezeigt werden: zerlumpte Gestalten, die zwischen Ruinen nach Essbarem suchen und halb erfrorene Soldaten im Schützengraben. Gerade unter dem II. Weltkrieg, der in Russland Großer Vaterländischer Krieg genannt wird, litt das damals Leningrad genannte St. Petersburg sehr. 900 Tage lang wurde die Stadt belagert und sollte ausgehungert werden.
Auf der komplett finsteren Bühne leuchten ein, zwei, drei kleine Lichter auf. Langsam schreiten weiß gekleidete Gestalten mit Kerzen in den Händen zur Mitte. Die Prozession gedenkt der im II. Weltkrieg gefallenen Russen. Etwa eine Million Menschen kam während der Blockade in Leningrad um. Umso bedeutsamer und auch erstaunlicher ist die heutige Verbundenheit der beiden Städte St. Petersburg und Hamburg. 1957 reist eine Senatsdelegation aus Hamburg in die nördliche Millionenstadt und legte hier den Grundstein für die ersten „Leningrad-Tage“, die 1979 in Hamburg stattfanden. Zwei Jahre später revanchierte sich Hamburg dann mit den ersten „Hamburg-Tagen“ in Leningrad. Die Verbundenheit ist jedoch nicht nur auf politischer Ebene beschlossen. In den kalten Wintern 1990/91 und 1991/92 löste die dramatische Nahrungsmittelknappheit eine Solidaritätswelle aus. Hamburger Schulen und Firmen, Kirchengemeinden und Privatleute spendeten und sammelten, übernahmen Patenschaften und entwickelten Projekte. Dieser Zeit entstammen intensive Kontakte und Freundschaften.
Doch zurück zur Bühne: Hier klatscht und singt das Publikum derweil beim bekannten russischen Volkslied Kalinka mit. Nach 300 Jahren Stadtgeschichte und vielfachen Kostümwechseln zu Fotos, Tanz und Musik stehen schließlich alle etwa 65 Tänzer auf der Bühne. Die kleinsten Künstler auf der Bühne sind Fünfjährige, die unter anderem die Pollen des St. Petersburger Sommers darstellten. Ältere Tänzer folgen bei der nächsten Performance.
Die Hip-Hop Gruppe vom Kinderring Berlin und dem Multifunktionalem Jugendzentrum Moskau betreten oder vielmehr betanzen die Bühne. Auch Berlin und Moskau sind seit 1991 Städtepartner. Seit dem 06. Juli sind Profitänzer aus Moskau in Berlin und haben sich mit den Berlinern gemeinsam eine Show erdacht. Zwölf Tänzer interpretieren zu wechselnder moderner Musik das Thema Deutsch-Russischer Jugendaustausch.
Um 12:15 Uhr ist die Vorstellung beendet. Erleichtert steht das junge Publikum nach dem langen, stillen Sitzen von den Plätzen auf und strömt zurück ins Foyer. Während einige sich direkt wieder auf den Flügel stürzen, der schon vor der Eröffnung Anziehungspunkt war und an diesem Klassiker und Evergreens spielen, scharen die Begleitpersonen grüppchenweise ihr Schützlinge um sich, um vor den nächsten Programmpunkten eine Stärkung zu sich zu nehmen.
14:45 Uhr: Wurfstäbe fliegen durch die Luft, Grillgeruch steigt auf und das Info-Zelt wirft seinen Schatten auf das sonnenbeschienene Gras des Tempelhofer Feldes. Etwa 60 Jugendliche aus Russland und Deutschland haben sich hier versammelt, um entsprechend dem Motto „Jugendaustausch bewegt“ zum Beispiel Gorodki zu spielen. Dabei handelt es sich um ein sehr altes russisches Wurfspiel. Ziel ist es, verschiedene Figuren, die aus fünf Holzklötzchen zusammengesetzt werden, mit einem Wurfstab aus einer abgegrenzten Spielfläche heraus zu schlagen. Andere Jugendliche sitzen zusammen am Biertisch oder spielen ein Bewegungsspiel zur Musik. Auch hier sind Sprachanimateure und Sprachmittler im Einsatz, um die Kommunikation zwischen Deutschen und Russen anzuregen und zu vereinfachen.
Zum DRJA gehört ein eigenes Sprachanimationsteam namens Drusja (=Freunde), das bei öffentlichen Veranstaltungen, Messen und Aktionstagen dabei hilft, Berührungsängste mit der jeweils fremden Sprache abzubauen. Dafür werden Elemente aus der Spiele-, Erlebnis- und Theaterpädagogik sowie dem Tandemlernen vereint, sodass der Fokus auf dem Erleben und Anwenden der Sprache liegt.
Evgenij, ein großgewachsener junger Mann, steht bei einer Gruppe am Grill. Sein Deutsch ist noch nicht perfekt, aber er hat ein Ziel: „Ich möchte als Spätaussiedler nach Deutschland kommen.“ Er stammt aus Krasnojarsk im Osten von Russland und ist Arzt. Jetzt lebt er seit zwei Jahren in St. Petersburg. Dass es in Deutschland mit der Anerkennung seiner Zeugnisse und dem erforderlichen hohen Sprachlevel nicht einfach wird, weiß er. „Ich muss noch ein bisschen Deutsch lernen“, sagt Evgenij und lächelt schüchtern. Es ist sein erster Besuch in Berlin, aber er kennt schon einige Städte im Süden Deutschlands.
Zur selben Zeit findet im Russischen Haus ein zweistündiges Theaterlabor mit dem Namen „Projekt Zwischenraum“ statt, in dem sich junge Migranten aus Frankfurt und St. Petersburg mit Flucht und Grenzen, Heimat und Fremde auseinandersetzen. Auch am Samstag geht das Festivalprogramm vielseitig weiter. In einem „BarCamp“ werden sich die Jugendlichen in Workshops und Diskussionen austauschen und dabei über die Zukunft der deutsch-russischen (Jugend-)Beziehungen sprechen. Zum Abschluss wird zur Party ins Kesselhaus der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg geladen.
16:00 Uhr: „Drei, zwei, eins – GO!“ Zischend fliegt das Geschoss in den Himmel. Alle Blicke verfolgen seine Flugbahn, um ihm auszuweichen, wenn es wieder zu Boden fällt. In internationaler Zusammenarbeit schicken russische und deutsche Jugendliche Wasserluftdruckraketen mit einem kleinen „Sputnik-Satelliten“ in die Luft.
Es haben sich eine Gruppe der Jugendfeuerwehr Sparrieshoop-Offenseth, der Kadettenschule Petrovo und des Gymnasiums Höchstadt bei der Feuerwache in der Reinickendorfer Straße in Wedding versammelt. Auch die Partnerschule des Gymnasiums Höchstadt aus Krasnogorsk bei Moskau ist dabei, sie tragen den Spruch „Auf zum Mars!“ auf ihren T-Shirts. Sie kommen von der Schule Nr. 18, die ein eigenes kleines Raumfahrtmuseum beherbergt und mit modernster Technik glänzt. Nachdem die deutsche Gruppe bereits eine Woche in Russland war, erfolgt nun der Gegenbesuch der Russen. Bis zum 23. Juli werden sie in Höchstadt bei Nürnberg Deutschland kennenlernen.
Gleb, 15 Jahre und ebenfalls aus Krasnogorsk, zeigt sich begeistert von Deutschland. Ihm gefällt Berlin, die Architektur, das Leben in der Stadt. Er ist einer der wenigen, der immer wieder von alleine den direkten Kontakt zu Deutschen sucht. Die Schüler aus Höchstadt sprechen kein Russisch und die Krasnodarer kein Deutsch, also sprechen sie hier Englisch. Schon bald sitzen einige um Glebs Tablet herum und bringen sich gegenseitig die Namen für die Schachfiguren bei.
„Es sind etwa 250 Schüler plus externe aus Schulen in Brandenburg und Berlin dabei“, zählt Henrike Reuther auf, die Leiterin des Projekts Sprachanimation beim DRJA. Zehn Gruppen aus Deutschland und acht aus Russland sind es; ein Festival in dieser Dimension findet zum ersten Mal statt. Bereits am Donnerstag begann die Veranstaltung mit einem Empfang im Auswärtigen Amt. Anwesend waren Staatssekretär Ederer und der russische Außenminister Lawrow. Das jetzt beendete Jahr des deutsch-russischen Jugendaustausches 2017 ist eins von mehreren sogenannten Kreuzjahren. Das folgende trägt den Namen „Jahr der kommunalen und regionalen Partnerschaften 2017/2018“ unter der Schirmherrschaft der beiden Außenminister. Es wurde in diesem Juni auf der XIV. Deutsch-Russischen Städtepartnerschaft in Krasnodar ausgerufen.
Betreut wird das Kreuzjahr auf deutscher Seite durch das Deutsch-Russische Forum e.V. (siehe Homepage ). Das Ziel ist es, die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den Kommunen beider Länder auszubauen. Ein speziell hierfür kreiertes Onlineportal wird Projekte, Initiatoren, Vereine sowie Kommunal- und Regionalverwaltungen bündeln und zugänglich machen. Die internationale Zusammenarbeit und Intensivierung der Kontakte setzt sich also auch in Zukunft fort.
Fotogalerie: